Du und ich und all die Jahre (German Edition)
sein.
Der Schneefall hört auf, und wir leeren unsere Drinks.
«Wollen wir einen Spaziergang machen?», fragt Aidan.
Es ist still draußen, alle haben Schutz in den Geschäften und Büros gesucht. Taxis rollen langsam vorbei, ganz Manhattan ist von einem dicken Schneeteppich bedeckt. Wir schlittern die Straße entlang Richtung East River. Plötzlich fragt Aidan: «Bist du schon mal die High Line entlanggegangen?»
«Ist das ein Euphemismus?»
Er lacht. «Nein. Die High Line ist die alte Hochbahntrasse aus den Dreißigern. Sie wurde vor Jahren stillgelegt. Jetzt ist sie als eine Art schmaler öffentlicher Park zehn Meter oben in der Luft wieder geöffnet. Das ist irgendwie cool. Das solltest du dir wirklich ansehen, wenn die Wildblumen blühen, aber bei Schnee ist es sicher auch ein großer Spaß.»
«Klingt toll.»
«Dann los!»
Aidan hält ein Taxi an und bittet den Fahrer uns zum Park an der 20th Street West zu bringen. Als wir durch den einer Postkarte gleichenden Central Park fahren, der still und verlassen unter dem Schnee ruht, wird mir schwindelig – und das liegt nicht an den beiden Whisky. Gedanklich reise ich in der Zeit zurück. Ich bin wieder neunzehn, sitze auf dem Gepäckträger von Aidans Motorrad und fahre in den Sonnenuntergang. Ich muss mich kneifen, um mich daran zu erinnern, dass ich nicht mehr neunzehn bin. Nein, ich bin eine dreiunddreißigjährige, verheiratete Frau mit einem Ehemann, der in einem Hotelzimmer am anderen Ende der Stadt auf sie wartet. Ich kann nicht mehr einfach fortlaufen, um neue Abenteuer zu erleben.
«Warum lächelst du?», fragt Aidan.
«Nur so», antworte ich. Ich hatte es gar nicht bemerkt.
«Du hattest eben diesen Gesichtsausdruck, den du immer bekommst, wenn du etwas Verrücktes machen willst», sagt er. «Hast du was Verrücktes vor?»
«Nein», antworte ich. «Die Zeiten sind vorbei.»
«Schade. Es war immer lustig mit dir, wenn du in dieser Stimmung warst.»
Das Taxi lässt uns an der Ecke 20th West und 10th raus, wo vom Bürgersteig eine Metalltreppe nach oben führt. Wir achten darauf, dass wir auf den vereisten Stufen nicht ausrutschen, klettern bis ganz nach oben und laufen die ehemaligen Gleise entlang.
Rechts haben wir Aussicht über den Chelsea Pier und den Hudson River bis nach New Jersey, das schwach in der Ferne leuchtet. Wir erreichen den Platz an der 10th Street, wo man durch ein Aussichtsfenster den unten vorbeirauschenden Verkehr beobachten kann. An die Scheibe gelehnt, betrachten wir die durch den Schnee fahrenden Taxis.
Aidans BlackBerry piepst. Er wirft einen flüchtigen Blick aufs Display und stellt es dann aus. «Nur das Büro», sagt er.
«Ruf zurück.»
«Das kann warten. Apropos Arbeit, du hast mir nie wegen des Libyen-Jobs geantwortet. Das ist eine großartige Gelegenheit, Nic. Du wärst perfekt dafür.»
«Ich weiß, ich wollte dich anrufen. Leider kann ich das nicht machen. Solche Aufträge übernehme ich nicht mehr. Ich kann London nicht einfach monatelang verlassen – mein neues Leben erlaubt das nicht.»
«Warum nicht? Du hast doch noch keine Kinder …» Der Satz hängt in der Luft wie eine ungestellte Frage.
«Aber zwei Hunde», erwidere ich. «Und Dominic.» Schon als ich es ausspreche, höre ich selbst, wie lächerlich das klingt.
Wir spazieren schweigend weiter. Plötzlich bleibt Aidan stehen und dreht sich zu mir um: «Du wirst stinksauer auf mich sein.»
«Na, das wäre ja mal ganz was Neues …»
«Ich muss es trotzdem sagen.»
«Was denn?»
«Du musst dein Leben wieder leben.»
«Was soll das denn heißen? Ich lebe mein Leben. Hier bin ich. Das ist mein Leben. Ich lebe es doch.»
«Du weißt, was ich meine.»
«Tu ich nicht.»
«Okay. Nachdem Julian gestorben ist, hast du dich aus allem ausgeklinkt. Du hast aufgehört zu arbeiten …»
«Ich arbeite doch.»
«Ach, komm schon», sagt er gereizt. «Du hast aufgehört richtig zu arbeiten und du hast deine Leichtigkeit verloren …»
«Leichtigkeit?»
«Du hast keinen Spaß mehr.»
«Ich habe getrauert, Aidan.»
«Ich weiß. Und anscheinend tust du das immer noch. Julian ist schon seit vier Jahren tot, und du bist immer noch der stille, zurückgezogene Mensch, zu dem du durch seinen Tod geworden bist.»
«Woher willst du das wissen, Aidan?», frage ich ihn verärgert. «Du hast mich seit seiner Beerdigung nicht mehr gesehen.» Blöd nur, dass er recht hat. Woher weiß er das alles?
«Ich höre so manches», sagt er. Alex, natürlich! Alex
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