Du und Ich
»Guten Abend, Duca, ich bin die Contessa Nunziante. Ah, da ist ja auch die Contessa Sinibaldi. Ja, dieses Fest ist ein wenig langweilig, und ich habe den Marchese Cercopithecus noch gar nicht gesehen. Er wird doch nicht in den Krokodilgraben gefallen sein?«
Unter einem Stapel Möbel stand eine lange, mit roten und grünen Blumen bemalte Truhe, die wie ein Sarg aussah.
»Hier ruht der arme Goffredo. Er hat ein vergiftetes Schnitzel gegessen.«
Das Handy klingelte.
Ich stöhnte: »O nein! Was für ein Nerv! Bitte, Mama … Lass mich in Ruhe.«
Ich versuchte, es zu ignorieren, doch das schaffte ich nicht. Zum Schluss hielt ich es nicht mehr aus und kletterte zum Fenster hoch. Auf dem Display war eine Nummer, die ich nicht kannte. Wer war das? Mich rief nie jemand außer Mama, Nihal, Oma und manchmal Papa an. Unentschlossen starrte ich weiter auf das Handy. Irgendwann wurde ich zu neugierig und meldete mich. »Hallo?«
»Hallo, Lorenzo. Hier ist Olivia.«
Ich brauchte ein paar Sekunden, bevor mir klar wurde, wer diese Olivia war … Olivia, meine Stiefschwester. »Ja. Grüß dich …«
»Wie geht’s dir?«
»Gut, danke, und dir?«
»Gut. Entschuldige, wenn ich dich störe. Tante Roberta hat mir deine Nummer gegeben. Hör mal, ich wollte dich etwas fragen … Weißt du, ob deine Mutter und Papa zu Hause sind?«
Eine Falle!
Ich musste achtgeben. Vielleicht hatte Mama einen Verdacht und benutzte Olivia, um herauszufinden, wo ich wirklich war. Aber soweit ich wusste, sprachen Olivia und Mama nicht miteinander … »Keine Ahnung … Ich bin in den Skiferien.«
»Ah …« Die Stimme klang enttäuscht. »Dann amüsierst du dich sicher bestens.«
»Ja.«
»Aber sag mal, Lorenzo, sind denn dein Vater und deine Mutter normalerweise um diese Zeit zu Hause?«
Was für Fragen stellte sie bloß? »Papa ist um diese Zeit bei der Arbeit. Und Mama geht manchmal ins Fitnesscenter oder in die Galerie. Es kommt darauf an.«
Stille. »Verstehe. Und wenn sie nicht da sind, ist dann sonst jemand zu Hause?«
»Nihal ist da.«
»Wer ist Nihal?«
»Unser Hausangestellter.«
»Ah. Gut. Hör mal, tust du mir einen Gefallen?«
»Was denn?«
»Sag keinem, dass ich dich angerufen habe.«
»In Ordnung.«
»Versprich es mir.«
»Ich verspreche es dir.«
»Gut. Viel Spaß beim Skifahren. Habt ihr Schnee?«
»Ein bisschen.«
»Also dann mach’s gut. Und vergiss nicht: kein Wort zu irgendjemandem.«
»In Ordnung. Ciao.« Ich legte auf und nahm die Perücke ab. Ich versuchte zu verstehen, was die von mir wollte. Und warum wollte sie wissen, ob Papa und Mama zu Hause waren? Warum rief sie meine Eltern nicht an? Ich zuckte mit den Schultern. Das war nicht meine Angelegenheit. Aber wenn es eine Falle gewesen war, dann hatten sie mich nicht hereingelegt.
Das einzige Mal, dass ich meine Stiefschwester Olivia gesehen hatte, war Ostern 1998 gewesen.
Ich war zwölf Jahre alt und sie einundzwanzig. Die Male davor gelten nicht. Ein paar Sommer hatten wir in der Villa von Nonna Laura auf Capri verbracht, doch ich war zu klein gewesen, um mich daran zu erinnern.
Olivia war die Tochter meines Vaters und einer blöden Ziege aus Como, die meine Mutter hasste. Eine Zahnärztin, mit der mein Vater verheiratet gewesen war, bevor ich geboren wurde. Damals lebte er mit der Zahnärztin in Mailand und hatte Olivia bekommen. Dann hatten sie sich scheiden lassen, und Papa hatte Mama geheiratet.
Mein Vater sprach nicht gern über seine Tochter. Ab und zu besuchte er sie und kam jedes Mal schlecht gelaunt zurück. Soweit ich verstanden hatte, war Olivia verrückt. Sie tat so, als wäre sie Fotografin, richtete aber nur Chaos an. Aus dem Gymnasium war sie rausgeflogen und ein paarmal von zu Hause weggelaufen, und dann war sie in Paris mit Faustini, dem Steuerberater meines Vaters, zusammen gewesen.
All diese Dinge hatte ich stückchenweise mitbekommen, denn meine Eltern sprachen in meiner Gegenwart nicht über Olivia. Doch manchmal im Auto vergaßen sie, dass ich da war, und dann rutschte ihnen irgendetwas heraus.
Zwei Tage vor Ostern hatten wir meinen Onkel besucht, der in Campagnano wohnte. Auf der Fahrt hatte Papa zu Mama gesagt, er habe Olivia zum Mittagessen eingeladen, um sie zu überreden, nach Sizilien zu gehen. Dort waren Priester, und die würden sie an einem schönen Ort einschließen, wo es Obstbäume, Gemüsegärten und viele Dinge zu tun gab.
Ich hatte erwartet, dass Olivia hässlich wäre und ein unsympathisches Gesicht hätte
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