Du und Ich
ganzen Körper zitternd und erschrocken darüber, was ich ihr hätte antun können. Ich hätte sie töten können. Ich begann, gegen Kartons zu treten, um mich zu beruhigen. Ich trat mir eine Glasscherbe in die Ferse, zog sie heraus und stöhnte vor Schmerz.
Olivia schluchzte, das Gesicht auf der Rückenlehne, die Beine zwischen die Arme gezogen.
»Jetzt reicht es!« Ich humpelte eilig zu meinem Rucksack, holte das Geld aus einem Umschlag und schrie: »Hier. Hier hast du’s. Mach was damit. Nimm’s. Hauptsache, du gehst.« Und ich warf das Geld auf sie drauf.
Olivia rappelte sich vom Sofa hoch und sammelte das Geld auf. »Du bist vielleicht ein Scheißkerl … Ich wusste doch, dass du Geld hast.« Sie nahm ihre Hose, knüllte das Geld in einer Hand zusammen und schloss die Augen. Aus ihren Augenwinkeln liefen Tränen. Die Schultern zuckten. »Nein. Ich kann nicht …« Sie ließ das Geld fallen und hielt sich eine Hand vors Gesicht. »Ich habe mir geschworen aufzuhören. Und diesmal … höre ich auf … sonst ist alles aus.«
Ich verstand nichts. Die Worte verloren sich in ihrem Schluchzen.
»Ich bin eine Schlampe … Ich hab’s mit dem … getrieben … Hab’s mit dem Typen getrieben … Wie konnte ich das nur tun?« Sie sah mich an und nahm meine Hand. »Ich habe für einen Schuss mit so einem Dreckskerl gevögelt. Dieses Schwein hat mich zwischen den Autos gevögelt. Wie widerlich … Sag mir, dass ich widerlich bin … Sag es, sag es … Ich bitte dich …« Sie brach zusammen und röchelte, als hätte man ihr mit der Faust in den Magen geschlagen.
Sie atmet nicht mehr, dachte ich und hielt mir die Ohren zu, doch ihr Röcheln durchbohrte meine Trommelfelle.
Jemand muss ihr helfen. Jemand muss herkommen. Sonst stirbt sie.
»Ich bitte euch … Ich bitte euch … helft mir«, flehte ich die Wände an.
Und dann sah ich sie da liegen.
Zwischen dem Geld auf dem Boden, allein und verzweifelt.
In mir brach irgendetwas auf. Der Riese, der mich an seine steinerne Brust gedrückt hielt, ließ mich frei.
»Verzeih mir, ich wollte dir nicht wehtun. Es tut mir leid …«
Ich nahm meine Schwester in die Arme und hob sie vom Boden hoch.
Sie bekam keine Luft mehr, als säße irgendetwas in ihrem Hals. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, schüttelte sie und klopfte ihr auf den Rücken. »Nicht sterben. Ich bitte dich. Nicht sterben. Ich helfe dir doch. Ich kümmere mich um dich …« Und ich spürte, wie ganz langsam ein wenig Luft in ihren Mund eindrang und die Brust erreichte. Nur ein bisschen am Anfang, dann, bei jedem Luftholen, ein wenig mehr, und zum Schluss murmelte sie: »Ich sterbe nicht. So leicht bin ich nicht umzubringen.«
Ich umarmte sie und legte meine Stirn an ihren Hals, drückte meine Nase an ihr Schlüsselbein und brach in Tränen aus.
Ich konnte nicht mehr aufhören. Ein Schwall Tränen folgte dem anderen, ich beruhigte mich für einen Moment, dann fing es wieder an, und ich weinte noch stärker als vorher.
Olivia zitterte und klapperte mit den Zähnen. Ich wickelte sie in eine Decke, doch sie bemerkte es kaum. Sie schien zu schlafen, aber sie schlief nicht. Vor Schmerz presste sie die Lippen aufeinander.
Ich fühlte mich nutzlos. Was sollte ich nun tun? »Magst du ein bisschen Coca-Cola? Ein Brötchen?«, fragte ich.
Sie gab mir keine Antwort.
Und schließlich fragte ich: »Soll ich Papa rufen?«
Sie öffnete die Augen und murmelte: »Nein. Ich bitte dich, tu das nicht.«
»Was kann ich dann tun?«
»Willst du mir wirklich helfen?«
Ich nickte.
»Dann musst du Schlafmittel für mich auftreiben. Ich muss schlafen. So halte ich es nicht aus.«
»Ich habe nur Aspirin, Paracetamol und Promethazin …«
»Nein, die nützen nichts.«
Ich setzte mich aufs Bett. Es war mir peinlich, sie wie ein Idiot anzustarren, ohne zu wissen, wie ich ihr helfen könnte.
Bei meiner Nonna Laura hatte ich das gleiche Gefühl. Seit zwei Jahren fraß ihr ein Tumor den Magen auf, und sie hatte eine Menge Operationen durchgemacht, und jedes Mal mussten wir sie besuchen, und sie war da in diesem kleinen Krankenhauszimmer: Kunstledersessel, Illustrierte wie Gente , der Espresso , den nur wir lasen, Formicamöbel, die Wände lindgrün, die Bar mit den trockenen Hörnchen, die angenervten Krankenschwestern mit den schrecklichen weißen orthopädischen Schuhen, die scheußlichen Kacheln auf dem kleinen Balkon ohne Pflanzen, und sie in dem Metallbett, vollgestopft mit Medikamenten, mit offenem Mund ohne
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