Du und Ich
kanadischen Wäldern leben?
»Ich bin nicht wie sie. Ich habe ein übergroßes Ego«, flüsterte ich, während drei riesige Kerle, die sich untergehakt hatten, mich wegstießen, als wäre ich ein Kegel. »Verzieh dich, du Bazille.«
In Trance sah ich, wie meine Beine, die sich anfühlten, als wären sie aus Holz, mich ins Klassenzimmer trugen. Ich setzte mich in die zweitletzte Bank, ans Fenster, und versuchte mich unsichtbar zu machen.
Doch ich entdeckte, dass die Technik der Tarnung auf diesem feindlichen Planeten nicht funktionierte. Die Raubtiere in dieser Schule waren sehr viel höher entwickelt und aggressiver und bewegten sich in Rudeln. Jedes Stillsein, jedes abweichende Verhalten fiel sofort auf und wurde bestraft.
Sie hatten es auf mich abgesehen. Sie machten sich darüber lustig, wie ich angezogen war und dass ich nicht sprach. Und dann fingen sie an, mit dem Schwamm nach mir zu werfen.
Ich flehte meine Eltern an, mich auf eine andere Schule zu schicken. Eine für Verhaltensgestörte oder Taubstumme wäre perfekt gewesen. Ich dachte mir alle möglichen Entschuldigungen aus, um zu Hause bleiben zu können. Ich lernte nicht mehr. Im Unterricht verbrachte ich die Zeit damit, die verbleibenden Minuten zu zählen, bis ich aus diesem Gefängnis herauskam.
Eines Vormittags täuschte ich Kopfschmerzen vor, blieb zu Hause und sah im Fernsehen einen Dokumentarfilm über Mimikry bei Insekten.
Irgendwo in den Tropen lebt eine Fliege, die Wespen imitiert. Sie hat einen gelb-schwarz gestreiften Hinterleib, Fühler und hervorstehende Augen und sogar einen falschen Stachel. Sie tut nichts, sie ist harmlos. Doch als Wespe verkleidet wird sie von den Vögeln, den Eidechsen, sogar den Menschen gefürchtet. Sie kann ganz ruhig in Wespennester eindringen, die zu den gefährlichsten und bestbewachten Orten der Welt gehören, und niemand erkennt sie.
Ich hatte alles falsch gemacht.
Das war es, was ich tun musste.
Die Gefährlichsten imitieren.
Ich zog die gleichen Sachen an wie die anderen. Sneakers von Adidas, Jeans mit Löchern, schwarzes Kapuzenshirt. Ich gab meinen Scheitel auf und ließ mir die Haare wachsen. Ich wollte auch einen Ohrring, doch meine Mutter verbot es mir. Zum Ausgleich schenkten sie mir zu Weihnachten ein Moped. Das gewöhnlichste.
Ich ging wie sie. Breitbeinig. Ich warf die Schultasche auf den Boden und versetzte ihr Fußtritte.
Ich imitierte sie zurückhaltend. Es ist nur ein kleiner Schritt von der Imitation zur Karikatur.
Während des Unterrichts saß ich in der Bank und tat so, als würde ich zuhören, doch in Wirklichkeit dachte ich an meine eigenen Angelegenheiten und erfand Science-Fiction-Geschichten. Ich ging sogar zum Sport, lachte über die Witze der anderen, spielte den Mädchen blöde Streiche. Ein paarmal gab ich auch den Lehrern unverschämte Antworten. Und lieferte bei Klassenarbeiten leere Blätter ab.
Der Fliege war es gelungen, alle zu täuschen, perfekt integriert in die Wespengesellschaft. Sie glaubten, ich wäre einer von ihnen. Ein cooler Typ.
Zu Hause erzählte ich, dass mich in der Schule alle nett fänden, und dachte mir lustige Geschichten aus, die mir passiert waren.
Doch je mehr ich diese Farce inszenierte, desto stärker wurde mein Gefühl, anders zu sein. Der Graben, der mich von den anderen trennte, wurde tiefer. Allein war ich glücklich, bei den anderen musste ich Theater spielen.
Das machte mir manchmal Angst. Würde ich sie für den Rest meines Lebens imitieren müssen?
Es war, als würde die Fliege in meinem Inneren mir die Wahrheiten sagen. Sie erklärte mir, dass Freunde dich schon nach einem Augenblick vergessen haben, dass Mädchen gemein sind und sich über dich lustig machen, dass die Welt da draußen nur Wettbewerb, Unterdrückung und Gewalt ist.
Eines Nachts hatte ich einen Albtraum, aus dem ich schreiend erwachte. Ich entdeckte, dass das T-Shirt und die Jeans meine Haut und die Adidas meine Füße waren. Und unter der Jacke, so hart wie ein Exoskelett, krabbelten hundert Insektenbeine.
Alles lief mehr oder weniger gut, bis ich mir eines Vormittags einen Augenblick lang wünschte, ich wäre keine als Wespe verkleidete Fliege mehr, sondern eine echte Wespe.
In der Pause streifte ich normalerweise, damit ich nicht auffiel, durch die Gänge voller Schüler, als hätte ich irgendetwas zu tun. Dann, kurz vor dem Läuten, setzte ich mich wieder in meine Bank und aß die Pizza bianca mit Schinken, die alle beim Hausmeister kauften. Im
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