Du und Ich
Klassenzimmer war die übliche Schwammschlacht in Gange. Zwei Gruppen, die sich gegenüberstanden und aufeinander zielten. Wenn ich getroffen worden wäre, hätte ich zurückgeworfen und versucht, dabei, wenn möglich, niemand zu erwischen, um keinen Vergeltungsschlag auszulösen.
Hinter mir saß Alessia Roncato. Sie sprach ununterbrochen mit Oscar Tommasi, und die beiden schrieben eine Namensliste auf einen Zettel.
Was war das für eine Liste?
Mich sollte das überhaupt nichts angehen, echt nichts, doch diese verdammte Neugierde, die sich grundlos ab und zu einstellte, trieb mich dazu, mit dem Stuhl nach hinten zu rücken, um verstehen zu können, was sie sagten.
»Meinst du denn, sie erlauben es ihm?«, fragte Oscar Tommasi gerade.
»Wenn meine Mutter mit ihnen redet«, antwortete Alessia Roncato.
»Ist denn Platz für uns alle?«
»Klar, es ist groß genug …« Irgendjemand fing an zu schreien, und ich konnte nichts mehr hören.
Wahrscheinlich überlegten sie, wen sie zu einer Party einladen sollten.
Als wir aus der Klasse gingen, setzte ich mir die Kopfhörer auf, schaltete aber die Musik nicht ein. Alessia Roncato und Oscar Tommasi standen zusammen mit dem Sumerer und Riccardo Dobosz an der Schulmauer. Alle wirkten aufgedreht. Der Sumerer spielte Skifahren und bog sich wie beim Slalom. Dobosz sprang ihm auf den Rücken und tat so, als wollte er ihm die Luft abdrücken. Ich konnte nicht verstehen, was Alessia zu Oscar Tommasi sagte. Doch ihre Augen leuchteten, als sie den Sumerer und Dobosz ansah.
Ich näherte mich der Gruppe bis auf wenige Meter, und schließlich bekam ich problemlos mit, um was es ging.
Alessia hatte sie zu Skiferien in ihr Haus in Cortina eingeladen.
Diese vier waren anders als die anderen. Sie machten ihr eigenes Ding, und man sah, dass sie dicke Freunde waren. Es schien, als wäre um sie herum eine unsichtbare Blase, in die niemand eindringen konnte, wenn sie es nicht wollten.
Alessia Roncato war die Anführerin, und sie war das schönste Mädchen der Schule. Aber sie spielte sich deshalb nicht auf, und sie versuchte nicht, irgendwem ähnlich zu sein, sie war sie selbst und sonst nichts.
Oscar Tommasi war spindeldürr und bewegte sich wie ein Mädchen. Sobald er sprach, lachten alle. Riccardo Dobosz war still und immer finster wie ein Samurai.
Doch am besten gefiel mir der Sumerer. Ich wusste nicht, warum man ihn so nannte. Er hatte ein Cross-Motorrad und war in allen Sportarten gut, es hieß, im Rugby würde er mal ein Champion. Groß wie ein Schrank, hatte er Hände wie aus Knete, einen Bürstenschnitt und eine platte Nase. Meiner Meinung nach konnte der Sumerer eine Dogge mit einem gezielten Schlag erledigen. Er war in der Sekunda, aber er verhielt sich nie wie ein Arsch gegenüber den Jüngeren. Für ihn waren die in den unteren Klassen ein wenig wie die Milben in Matratzen. Auch wenn sie da sind, sieht man sie nicht.
Sie waren die Fantastischen Vier und ich der Silver Surfer.
Der Sumerer stieg auf sein Motorrad und ließ Alessia dazuklettern. Sie schlang die Arme um ihn, als hätte sie Angst, ihn zu verlieren, und sie fuhren mit quietschenden Reifen los. Auch die anderen Schüler traten nach und nach den Heimweg an, und die Straße leerte sich. Der Plattenladen und das Elektrogeschäft machten Mittagspause und hatten die Rollläden heruntergelassen.
Nur ich war noch da.
Ich musste nach Hause gehen. Wenn ich in zehn Minuten nicht auftauchte, würde meine Mutter anrufen. Ich schaltete das Handy aus. Starrte auf die gesprayten Graffiti an der Wand, bis sie unscharf wurden. Farbkleckse auf einer Hausmauer.
Hätte Alessia auch mich eingeladen, dann hätten sie sehen können, wie gut ich Ski fuhr. Ich hätte ihnen geheime Abfahrten abseits der Pisten zeigen können.
Ich fuhr nach Cortina, seit ich auf der Welt war. Ich kannte alle Pisten und eine Menge Tiefschneeabfahrten. Meine liebste fing am Monte Cristallo an und endete mitten im Ort. Man kam durch Wald, es gab unglaubliche Sprünge, und einmal sah ich direkt hinter einem Haus zwei Gämsen. Später könnten wir dann ins Kino gehen und im Lovat eine heiße Schokolade trinken.
Ich hatte so viele Dinge mit ihnen gemeinsam. Dass Alessia ein Haus in Cortina hatte, konnte kein reiner Zufall sein. Und dann begriff ich: Auch sie waren Fliegen, die so taten, als wären sie Wespen. Nur dass sie sehr viel besser als ich die anderen zu imitieren verstanden. Wenn ich mit nach Cortina gekommen wäre, hätten sie kapiert, dass ich
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