Du wirst noch an mich denken
seinem Leben hatte er sich irgendjemandem gegenüber minderwertig gefühlt, egal ob Mann, Frau oder Kind, und er würde ganz bestimmt nicht jetzt damit anfangen.
Er war heute einfach nur nicht gut drauf.
»Mädchen! Ich bin ja so froh, dich zu sehen ... Ich dachte schon, du kommst nie mehr nach Hause!«
Aunie, noch halb in der Haustür, blickte auf und sah Lola den Kopf aus ihrer Wohnung strecken. »Hallo«, sagte sie und lächelte. Ihre Freundin schien vor Aufregung beinahe zu platzen. »Was ist denn los? Du siehst aus, als hättest du gerade im Lotto gewonnen.«
»Besser.« Lola trat einen Schritt zurück und hielt die Tür auf. »Bitte, komm doch rein.« So höflich das auch klang, es war eindeutig keine Bitte, die Aunie ihr hätte abschlagen dürfen. Also folgte sie der Aufforderung.
»Setz dich, setz dich.« Lola deutete auf einen Stuhl. »Willst du Tee? Kaffee? Cola?«
»Was ich will«, erwiderte Aunie, packte Lola am Handgelenk und zog sie neben sich aufs Sofa, »ist wissen, was hier los ist. Du platzt doch jeden Augenblick!« Ihre Augen weiteten sich. »Mein Gott, Lola, ist es wegen des Babys?«
Lola lachte und schlug die Hände vor der Brust zusammen. »Ja! Unsere Sozialarbeiterin von der Agentur hat angerufen!«
Aunie richtete sich kerzengerade auf. »Und ... und?«
»Und sie hat gesagt, es gibt da eine junge Frau, die unser Familienalbum ausgesucht hat!«
»O Lola!« Aunie fasste ihre Freundin bei den Händen. »Das ist eine tolle Neuigkeit! Du musst mir alles ganz genau erzählen.«
»Sie ist noch sehr jung, erst fünfzehn. Der errechnete Geburtstermin ist am 5. Juni.«
»Das sind ja bloß noch zwei Monate.«
»Wenn es dabei bleibt. Beim ersten Kind verschiebt es sich oft nach hinten. Ich bin so aufgeregt. Aber ich halte das Warten aus, solange ich weiß, dass wir am Ende unser Kind bekommen. Bis dahin vertreibe ich mir die Zeit damit, sein Zimmer einzurichten.« Sie ließ ein tiefes, frohes Lachen hören.
Es war so ansteckend, dass Aunie einstimmte. »Ach Lola, meinen Glückwunsch. Otis ist bestimmt auch schon furchtbar aufgeregt.«
Ein Teil der Fröhlichkeit wich aus Lolas Augen. »Er weiß es noch nicht.«
»Er weiß es nicht! Warum denn?«
Lola sprang nervös auf, nur um sich gleich wieder zu setzen. »Die Sozialarbeiterin hat mich vor ungefähr drei Stunden angerufen. Ich hab natürlich sofort Otis angerufen, aber der ist heute mit dem Notarzt unterwegs. Du warst nicht da. Und was James betrifft, der veranstaltet oben im zweiten Stock einen Krach, als wollte er die ganze Bude hier zum Einsturz bringen, auf jeden Fall klingt es, als sollte man ihn besser nicht stören. Ich wollte, dass Otis dabei ist, wenn ich seine Leute anrufe, um ihnen die Neuigkeit mitzuteilen. Ich dachte schon, ich muss durchdrehen, weil keiner da war, dem ich's erzählen konnte. Ich bin froh, dass wenigstens du heimgekommen bist.« Sie zupfte an ihrem Fingernagel herum. »Wenn doch Otis endlich anrufen würde.«
»Ich bin sicher, dass er das tut, sobald er wieder auf die Wache kommt. Wann ist seine Schicht zu Ende?«
»Erst morgen Nachmittag. Schau mal.« Sie beugte sich vor, um ein großes Kochbuch vom Boden aufzuheben, und blätterte darin. »Ich dachte mir, das koche ich morgen Abend zur Feier des Tages«, sagte sie und deutete auf die Abbildung eines Filet Wellington.
»Das ist eine großartige Idee. Ich bringe dir meine Kerzenhalter aus Kristall runter. Die machen sich bestimmt gut auf dem Tisch.« Plötzlich begann das Sofa zu vibrieren, und Aunie richtete sich erschrocken auf. »Was ist das denn?« Sie hatte ihre Kommilitonen über Erdbeben reden hören, und kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass das eines sein könnte. Aber wenn, dann hatte es nur ein paar Sekunden gedauert.
Lola drückte ihre Hand. »Keine Angst«, sagte sie. »Das ist nur James. Er muss einen Stützbalken getroffen haben.«
»Ich dachte schon, es wäre ein Erdbeben«, gab Aunie zu. Sie sah zur Decke hinauf. »Was macht er denn da oben?«
»Aggressionen abarbeiten, würde ich sagen«, erwiderte Lola. Sie beugte sich vor, schob behutsam Aunies hochgestellten Kragen zur Seite und musterte den kleinen roten Fleck, der darunter zum Vorschein kam. »Du weißt wohl nicht zufällig, warum James so aggressiv ist, oder?«
Aunie, die bereits den Mund geöffnet hatte, um Lola alles zu erzählen, stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie es nicht konnte. Das war seltsam, genau das hatte sie am Nachmittag nämlich noch
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