Du wirst noch an mich denken
gewesen, aber sie wusste ja schon seit langem, dass diese Welt weit davon entfernt war, perfekt zu sein.
Nachdem sie in ihren Überlegungen so weit gekommen war, zwang sie sich dazu, den nächsten Schritt zu machen und auf den zweifelhaften Trost durch Selbstmitleid zu verzichten. Stattdessen versuchte sie, die Sache rational anzugehen. Und das hieß, als Erstes ein Münztelefon aufzusuchen.
Sie fischte eine Hand voll Münzen aus ihrem Geldbeutel und wählte. In dem Augenblick, als sie Wesleys Stimme hörte, legte sie den Hörer auf und ließ sich mit heftig klopfendem Herzen an die Ziegelwand sinken.
Also gut. Sie presste die Faust auf ihr Herz und atmete ein paarmal tief durch. Reiß dich zusammen und konzentrier dich auf die Fakten. Fakt eins: Es war nicht Wesley, der sie beobachtete. Das schloss natürlich nicht aus, dass es ein von ihm angeheuerter Privatdetektiv war, aber es war tröstlich zu wissen, dass zumindest in diesem Augenblick Wesley selbst sich nicht in der Nähe aufhielt.
Fakt zwei: Sie fühlte sich nie beobachtet, wenn sie Unterricht hatte. Sie war sich nicht sicher, ob das in irgendeiner Weise von Belang war, beschloss jedoch, vorsichtshalber einmal davon auszugehen. Außerdem konnte sie wohl davon ausgehen, dass sie jemand sehr lange und intensiv anstarren musste, damit sich die Härchen in ihrem Nacken so aufrichteten, wie sie es taten. Und das wäre unter den anderen Studenten in einem geschlossenen Unterrichtsraum nur schwer zu bewerkstelligen. Was folgte daraus? Wahrscheinlich Fakt drei: Das Gefühl, beobachtet zu werden, hatte sie nur während der Mittagspause auf der Plaza.
Als Otis sie am Montagnachmittag abholte, völlig aus dem Häuschen vor Aufregung und mit jeder Menge Polaroidfotos von seiner neugeborenen Tochter ausgestattet, hatte Aunie beschlossen, sich mit den Tatsachen abzufinden. Auch wenn es ihr anders besser gefallen hätte, ihr Leben würde nun mal nicht so reibungslos wie im Hollywoodfilm verlaufen. Diese Erkenntnis hatte sie traurig gestimmt, sie hatte sich noch einmal ein bisschen selbst bedauert, und dann hatte sie den Entschluss gefasst, nach einer Lösung zu suchen und sich nicht unterkriegen zu lassen.
Was sie in ihrem sowieso schon aufgewühlten Gemütszustand jedoch am stärksten aus der Fassung gebracht hatte, war der Streit, den sie nach dem Unterricht am Mittwochnachmittag mit James hatte, kurz bevor Lola und Otis mit ihrem Baby nach Hause gekommen waren.
Jemand wollte ihr etwas Böses, und sie konnte nicht leugnen, dass ihr das Angst machte. Aber das verstörte sie nicht annähernd so sehr wie die daraus resultierenden Spannungen zwischen ihr und James. Sie lebten unter dauernder Belastung, standen unablässig unter Druck, und das brachte sie dazu, gereizt auf jedes falsche Wort oder jeden falsch verstandenen Blick des anderen zu reagieren. Jimmy konnte wirklich ziemlich gemein werden, wenn er sich in der entsprechenden Stimmung befand. Wenn sie ehrlich war, traf das wohl auch auf sie zu. Aber es tat weh, wenn sie die Zielscheibe seiner Wut war. Sehr weh.
Der Streit am Mittwoch schien aus heiterem Himmel entstanden zu sein. Schuld daran war offenbar ihre Fähigkeit, unangenehme Dinge für eine Weile einfach zu verdrängen. Wenn er ihr doch nur ein paar Sekunden Zeit gelassen hätte, alles zu erklären ...
Diese Fähigkeit, Probleme beiseite zu schieben, war ein Zeichen dafür, welches Chaos nun schon seit geraumer Zeit in ihrem Leben herrschte. Sie war nicht so dumm, sich einzubilden, dass sich ihre Schwierigkeiten in Luft auflösen würden, wenn sie ihnen nur lange genug keine Beachtung schenkte.
Aber emotionale Gratwanderungen hielt man nicht unbegrenzte Zeit durch, ohne in eine abgrundtiefe Krise zu stürzen. Um einen völligen Zusammenbruch zu vermeiden, hatte sie schon vor langem gelernt, die Lösung eines Problems auf später zu verschieben und sich auf die kleinen alltäglichen Dinge zu konzentrieren. Es war eine der unerfreulichen Tatsachen des Lebens, dass sie sich exakt demselben Problem wie vorher gegenübersah, wenn sie sich erneut damit auseinander setzte, aber der Trick bestand darin, sich eine kurze Verschnaufpause zu verschaffen und neue Kräfte zu sammeln. Diese Vorgehensweise hatte sie in den vergangenen Jahren angewandt, um das Chaos in ihrem Leben in den Griff zu bekommen.
Sie wollte James nichts verschweigen, als sie ihm nichts von ihrem Verdacht, wieder beobachtet zu werden, erzählte. Sie hatte es vergessen, verdammt noch mal. Sie
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