Du wirst noch an mich denken
mein Ego.«
»Freut mich«, gab Mary verdrießlich zurück und nahm ihren Stift wieder in die Hand. »Sag einfach Bescheid, wenn du Nachschub brauchst. Aber in der Zwischenzeit kannst du mir vielleicht helfen, diesen Mist zu begreifen.«
»Nun mach schon«, murmelte Mary und drückte erneut auf die Klingel. »Ich bin nicht vier Häuserblocks weit durch den Regen gelatscht, um jetzt hier vor der Tür herumzustehen.« Immer noch keine Antwort. »So was Blödes!«
Sie zögerte kurz, dann drückte sie auf den Knopf unter dem Schildchen, auf dem Hausverwalter stand.
In der Sprechanlage knisterte es. »Kann ich Ihnen helfen?«
Mary beugte sich näher zum Lautsprecher. »Ja, bitte. Mein Name ist Mary Holloman ... ich bin eine Freundin von Aunie. Offenbar ist sie nicht zu Hause, und ich wollte fragen, ob ich eine Nachricht für sie hinterlassen kann.«
»Sie hat mir von Ihnen erzählt«, erwiderte die ruhige, melodiöse Stimme mit dem exotischen Akzent. »Kommen Sie rein. Sie ist im ersten Stock und lässt sich von den Männern zeigen, wie man eine Wand streicht.« Auf ein erneutes Knistern folgte kurze Stille, gleich darauf summte der Türöffner, und Mary betrat das Haus. Während sie die Treppe hinaufstieg, dachte sie wohl zum hundertsten Mal darüber nach, was für ein Rätsel Aunie Franklin doch war.
Offensichtlich hatte sie mit der Frau mit dem exotischen Akzent über sie geredet, aber andererseits hatte sie Mary gegenüber diese Frau mit keinem Wort erwähnt. Sie hatte ihr ein paar wenige Dinge über ihre Kindheit und Jugend erzählt, genug, um zu erklären, warum sie immer wieder von neuem entzückt darüber war, dass Mary sie für intelligent hielt. Mary hatte jedoch das Gefühl, dass hinter Aunies Geschichte mehr steckte, als sie bis jetzt erfahren hatte.
Sie hoffte aufrichtig, dass Aunie eines Tages genug Vertrauen zu ihr haben würde, um ihr ihre ganze Lebensgeschichte zu erzählen. Ihr lag viel an Aunie, und sie war überzeugt, dass sich aus ihrer derzeit eher noch oberflächlichen Beziehung eine echte, enge Freundschaft entwickeln konnte.
»Verdammt noch mal, Aunie, passen Sie doch auf, Sie tropfen ja alles voll!«, drang eine gereizte Männerstimme an Marys Ohr, als sie den oberen Treppenabsatz erreichte.
»Sie sind an die Leiter gestoßen!«
»Ich bin überhaupt nicht in die Nähe der Leiter gekommen.«
»Ja, klar. Wenn das nicht wieder mal die typisch männliche Art ist, jede Verantwortung weit von sich zu schieben.« Darauf folgte ein kurzes gedämpftes Lachen, das hastig in heiseres Husten überging. Dann war erneut Aunies Stimme zu vernehmen, die mit falschem Bedauern sagte: »Es war natürlich ganz allein meine Schuld, Mister Ryder. Tut mir ja so Leid.«
»Es wird Ihnen gleich Leid tun, wenn Sie nicht endlich mit diesem Mister aufhören. Mittlerweile durchschaue ich Sie, Magnolie - ich weiß ganz genau, dass Sie das bloß machen, um mich zu ärgern.«
»Aber James, wie kommen Sie denn auf die Idee?«
»Intuition. Wahrscheinlich lachen Sie sich heimlich ins Fäustchen, dass es funktioniert.«
Mary blieb ein paar Stufen unterhalb des Treppenabsatzes stehen und hörte dem Wortwechsel fasziniert zu. Sie und Aunie teilten einen ähnlichen Sinn für Humor, und in den vergangenen Wochen hatten sie viel miteinander gelacht. Im Großen und Ganzen war sie es jedoch gewohnt, dass ihre Freundin sich anderen Leuten gegenüber zwar freundlich, aber zugleich auch reserviert verhielt. So wie jetzt hatte sie sie noch nie erlebt, so frech und schlagfertig. Wieder bekam sie eine neue Facette einer schillernden Persönlichkeit zu sehen. Mary grinste und brachte rasch die restlichen Stufen hinter sich.
Sie erblickte Aunie auf einer Leiter stehend zwischen zwei Männern, die den Eindruck erweckten, als wäre mit ihnen nicht gut Kirschen essen. Sie musterte die beiden. Der schwarze Mann war ein wahrer Riese und sah so aus, als würde er zum Frühstück kleine Kinder verschlingen. Wahrscheinlich hatte das etwas mit seinem kahlen Schädel mit der großen Narbe und seiner massigen Gestalt zu tun Der andere, der Blonde mit dem Pferdeschwanz, war zwar bei weitem nicht so groß und muskulös wie sein Kumpel, aber immer noch kräftig genug gebaut, und er durchbohrte gerade Aunies Rücken mit einem Blick, der alles andere als wohlwollend war. Seinem Gesichtausdruck nach zu urteilen, gehörte er zu dem Typ, dem man alles zutrauen musste. Es überraschte Mary, dass Aunie den Mut hatte, ihm Paroli zu bieten - oder sich
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