Du wirst schon noch sehen wozu es gut ist
vermute ich, dass die Erlebnisse dieses Tages Ihnen ganz besonders nahegegangen sind.»
«Ich weiß, dass Sie mich für absichtlich aufsässig halten werden, aber diese Bezeichnung hasse ich wirklich.»
«Welche Bezeichnung?»
«Ground Zero.»
«Oh. Weshalb?»
«Das kommt mir wie ein Euphemismus vor. Wie etwas, das man in einem James Bond-Film sagen würde. Und durch diese Bezeichnung wurde ein eigener Ort geschaffen. So wie: ‹Lass uns rüber zum Ground Zero gehen. Lass uns zum Rockefeller Center gehen. Lass uns ins Yankee Stadion gehen.›»
«Wie würden Sie es denn gern nennen?»
«Ich weiß nicht. Der Platz vom World Trade Center. Wo das World Trade Center war. ‹Lass uns rüber an die Stelle gehen, wo das World Trade Center war, bevor Terroristen ein Flugzeug hineingesteuert und es zum Einsturz gebracht haben.›»
«Okay. Nun, nachdem die Stuyvesant direkt neben dem Platz vom World Trade Center liegt, gehe ich davon aus, dass die Erlebnisse dieses Tages Ihnen sehr nahegegangen sind.»
«Ich glaube, die Erlebnisse dieses Tages sind jedem sehr nahegegangen.»
Sie schüttelte traurig den Kopf.«Ich stimme Ihnen zu», sagte sie.«Aber darauf wollte ich nicht hinaus. Sie waren auf der den Türmen gegenüberliegenden Straßenseite. Ich nehme an, Sie haben alles gesehen, was passiert ist. Ich glaube nicht, dass jeder es so erlebt hat.»
Von den Fenstern unseres Klassenzimmers aus sahen wir tatsächlich alles, was passierte.
Eine Weile lang sagte ich kein Wort.
Ich dachte an eine Meldung, die ich einen oder zwei Monate nach dem 11. September 2001 in der Zeitung gelesen hatte. Es ging um diese Frau, von der keiner gewusst hatte, dass sie verschwunden war. Niemand hatte sie vermisst. Niemand hatte gemeldet, dass sie vermisst wurde. Keine Familie, keine Freunde. Ihre Nachbarn hatten nichts bemerkt. Sie war ein so stiller Mensch gewesen und hatte ein so einsames Leben geführt, dass ihre Abwesenheit niemandem auffiel. Der einzige Mensch, der etwas bemerkte, war ihre Handpflegerin. Sie hatte einen festen wöchentlichen Termin bei der Maniküre gehabt, und als sie nicht erschien und auch nicht erreicht werden konnte, rief die Handpflegerin die Polizei. Sie brachen ihre Wohnung auf. Sie fanden einen Vogel, einen Papagei oder so, tot in seinem Käfig und natürlich keine Spur von ihr, nur die Zeitung vom 11. September lag noch aufgeschlagen auf dem Küchentisch. Es hatte über einen Monat gedauert, bis irgendjemand mitbekommen hatte, dass sie verschwunden war, und wenn ihre Handpflegerin nicht gewesen wäre, hätte es vielleicht nie jemand gemerkt.
Nach einer Weile sagte ich:«Ich denke an diese Frau, die am 11. September gestorben ist, und von deren Verschwinden niemand etwas gemerkt hat. Haben Sie etwas darüber gelesen?»
«Ich glaube nicht», sagte Dr. Adler.
Ich erzählte ihr die Geschichte von der Frau, und sie sagte, sie habe von mehreren solchen Leuten gehört - Leute, die gestorben waren, die aber niemand vermisst hatte. Zumindest nicht gleich. Sie fragte mich, was ich glaube, wieso ich an diese Frau gedacht habe.
Sie machte mich sehr traurig, diese Frage. Traurig und niedergeschlagen. Denn ich wusste, dass sie wusste, weshalb ich an diese Frau gedacht hatte - ich dachte daran, wie sehr ich selbst zum Alleinsein neigte, und ich dachte, dass ich selbst wie diese Frau enden könnte, mit einem Vogel vielleicht, oder einem Hund - wahrscheinlich einem Hund, ich weiß ja, dass Vögel prima Haustiere sein sollen, aber ich finde, sie haben etwas Gruseliges -, jedenfalls ganz allein in einem Leben, das keinerlei Berührungspunkte oder Überschneidungen mit dem Leben eines anderen Menschen aufwies, einem gewissermaßen hermetisch abgeriegelten Leben. Ich wusste, dass Dr. Adler wusste, dass ich das dachte, und dass sie einfach nur wollte, dass ich es sagte - mich«aussprach», denn sie glaubte, wenn ich solche Gedanken in Worte fasste, könnte ich sie überwinden oder mich von ihnen befreien, doch was sie nicht wusste, war, dass mich die Geschichte von dieser Frau, die auf solche Weise verschwunden war, nicht traurig machte, ich fand es nicht tragisch, dass sie die Welt ohne jeden Nachhall verlassen hatte. Ich fand es wunderschön. So zu sterben, ohne eine Spur zu verschwinden, unterzugehen, ohne Wellen zu schlagen, nicht einmal ein verräterisches Blubbern steigt an die Wasseroberfläche, als würde man sich von einer Party davonstehlen, und niemand merkt, dass man weg ist.
«Wieso haben Sie an diese Frau
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