Du wirst sein nächstes Opfer sein: Thriller (Knaur TB) (German Edition)
Professionelle.
Nutte, Callgirl, Escort Service, Stricherin, Hure – sie hatte alle Bezeichnungen schon einmal durch. »Sexgewerbetreibende« war der Begriff, den sie aus zwei Gründen bevorzugte: zum einen, weil er klarmachte, dass das, was sie tat, eine ganz normale Arbeit war und keine Macke, kein Verbrechen, keine Krankheit. Sie erbrachte eine Leistung und wurde dafür bezahlt, so wie jeder andere auch. Zum anderen beinhaltete der Begriff das Wort »Gewerbe«, und das gefiel ihr. Gewerbe hatten eine uralte Tradition, und damit gesellte sich ihr Gewerbe zu der ehrwürdigen Geschichte der Zimmermänner, Weber, Bauern …
Und Jäger. Vor allem Jäger.
Jede Arbeit der Welt verlangte, dass man Zeit und Anstrengung gegen die Mittel zum Überleben eintauschte: Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf. Man opferte ein wenig Schweiß, um dafür Sicherheit zu erlangen, so funktionierte die Welt. Und wenn einem der Job auch noch Spaß machte, dann war das eine Dreingabe. Und wenn die Arbeit dafür sorgte, dass die Welt ein bisschen besser wurde, dann war das eine Dreingabe für alle anderen.
Nikki mochte nicht besonders, was sie tun musste, um ihre Miete zu bezahlen, und sie war sich nicht sicher, ob sie die Welt damit besser machte – immerhin machte sie die Welt ein bisschen weniger geil. Wie die meisten Menschen, die keine Karriere verfolgten, sondern nur eine Arbeit erledigten, fand sie Zufriedenheit außerhalb der Arbeit. Streng genommen war das eine Erweiterung ihrer Arbeit, aber sie bekam nur selten Geld dafür. Nein, sie tat es, weil …
Nikki betrachtete sich in der Spiegelwand des Nachtclubs. Die blitzenden Lichter von der Tanzfläche hinter ihr tauchten sie in schreiend bunte Farben.
Warum zum Teufel tue ich das? Ich bin eine menschliche Zielscheibe, ein Köder am Haken. Ich stelle mich in die Schussbahn, um durchgeknallte Mörder anzulocken, damit mein Partner an ihnen sein Faible für die Spanische Inquisition ausleben kann. Früher oder später werden uns die Bullen erwischen. Oder wir geraten an den falschen Gegner und enden in einem unbekannten Grab. Freilich erst nachdem wir mit Ackerwerkzeugen vergewaltigt worden sind.
Sie schüttelte den Kopf und schüttete ihren Drink hinunter. Dann winkte sie der Bedienung, damit sie ihr einen neuen brachte. Sie wurde stets schnell bedient, vor allem, weil sie den Kellnern die Hälfte des Trinkgelds schon im Voraus gab. Wenn sie wussten, was sie erwartete, strengten sie sich mehr an.
Als sie angefangen hatten, hatten Jack und sie eine Vereinbarung getroffen: Sie nahm eine bestimmte Sorte von Risiken in Kauf und er eine andere. Sie war der Köder und Jack die Falle – aber zuzuschnappen und die Beute zu fangen forderte mit der Zeit auch einen Tribut. Wie sehr Jack sich auch stählte, wie sehr er sich abhärtete, er blieb doch ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ihm machte seine Arbeit genauso wenig Spaß, wie es ihr Spaß machte, einem Fremden auf dem Rücksitz eines Kleinbusses einen Blowjob zu verpassen.
Doch früher oder später würde Jacks Arbeit ihn aufreiben.
Nikki hatte schon oft genug erlebt, wie die Straße Menschen verschluckte. Gewalt, Haftstrafen, Drogenabhängigkeit und Krankheiten waren die vier apokalyptischen Reiter der Selbstzerstörung in diesem Leben, und sie taten sich bereitwillig zusammen, um ein Opfer ins Unglück zu stürzen. Die ersten beiden warteten beständig in den Schatten auf Jack. Aber gegen was er sich jedes Mal zur Wehr setzen musste, wenn er diese verdammte Aktentasche öffnete und die Instrumente herausholte, war schlimmer als alles andere. Nikki vermochte noch nicht einmal zu sagen, wie sie es benennen sollte. Wie nannte man die Macht, die ganz allmählich die Menschlichkeit aushöhlte? Besessenheit? Wahnsinn? Umnachtung?
Der Patron hätte sie Kunst genannt.
Dass ihr eigenes Schicksal nur zwei simple Ausgänge für sie bereithielt, war Nikki bewusst. Entweder sie würde überleben oder nicht. Bei Jack hingegen …
Jack starb auf Raten. Und das wusste er.
Und so ungern sie es zugab, und so sehr es sie ankotzte, sich selbst zu definieren, indem sie sich mit jemand anderem verglich: Ihr war klar, dass genau dies einer der Gründe, wenn nicht sogar der Hauptgrund war, weshalb sie das alles tat. Denn gemessen an dem, was Jack verloren hatte und immer noch jeden Tag verlor, waren ihre eigenen Opfer klein und bedeutungslos.
Nikki hatte in ihrem bisherigen Leben nicht viele wirklich gute Menschen kennengelernt. Und sie
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