Dubliner (German Edition)
Zwölfuhr-Andacht in der Marlborough Street zu besuchen.
Dass sie obsiegen würde, stand für sie fest. Zunächst einmal hatte sie das ganze Gewicht der öffentlichen Meinung auf ihrer Seite: Sie war eine empörte Mutter. Sie hatte ihn unter ihrem Dach beherbergt in der Annahme, dass er ein Ehrenmann sei, und er hatte ihre Gastfreundschaft missbraucht. Er war vier- oder fünfunddreißig Jahre alt, sodass Jugend für ihn keine Entschuldigung mehr war, ebenso wenig wie Unwissenheit, denn er war ein Mann, der schon etwas von der Welt gesehen hatte. Er hatte einfach Pollys Jugend und Unerfahrenheit ausgenutzt: Das lag klar auf der Hand. Die Frage war: Zu welcher Wiedergutmachung war er bereit?
In einem solchen Fall war eine Wiedergutmachung unabdingbar. Für den Mann ist alles gut und schön: Er kann seiner Wege gehen, als wäre nichts geschehen, wenn er sein kleines Vergnügen gehabt hat, aber das Mädchen muss alles ausbaden. Es gibt zwar Mütter, die für einen gewissen Betrag bereit sind, unter so eine Affäre einen Strich zu ziehen; ihr waren solche Fälle selbst bekannt. Aber sie würde das nicht tun. Für sie ließ sich der Verlust der Ehre ihrer Tochter nur auf eine Art wiedergutmachen: Heirat.
Sie zählte ihre Trumpfkarten noch einmal, bevor sie Mary zu Mr Doran hinaufschickte, um ihm ausrichten zu lassen, sie wünsche mit ihm zu sprechen. Dass sie obsiegen würde, stand für sie fest. Er war ein ernsthafter junger Mann und nicht so liederlich und laut wie die anderen. Hätte es sich um Mr Sheridan oder Mr Meade oder Bantam Lyons gehandelt, hätte sie es viel schwerer gehabt. Sie glaubte nicht, dass er sich öffentlichem Gerede aussetzen würde. Alle im Haus wussten etwas von der Affäre, manche hatten Einzelheiten hinzuerfunden. Außerdem war er seit dreizehn Jahren bei einer berühmten katholischen Weinhandlungangestellt, und öffentliches Gerede würde für ihn möglicherweise den Verlust seiner Stellung bedeuten. Stimmte er hingegen zu, dann war vielleicht alles gut. Sie wusste, dass er zumindest ganz gut bei Kasse war, und vermutete außerdem, dass er etwas auf die hohe Kante gelegt hatte.
Fast schon halb! Sie stand auf und betrachtete sich prüfend im Wandspiegel. Sie war mit dem entschlossenen Ausdruck in ihrem großen, frischen Gesicht zufrieden, und sie dachte an einige Mütter in ihrer Bekanntschaft, die ihre Töchter einfach nicht unter die Haube bekamen.
Mr Doran war an diesem Sonntagmorgen außerordentlich nervös. Zweimal hatte er den Versuch gemacht, sich zu rasieren, aber seine Hand hatte so gezittert, dass er es aufgeben musste. Ein rötlicher Drei-Tage-Bart säumte sein Kinn, und alle paar Minuten beschlug seine Brille, sodass er sie absetzen und mit dem Taschentuch putzen musste. Die Erinnerung an seine Beichte vom Vorabend bereitete ihm große Pein; der Priester hatte jede lächerliche Einzelheit der Affäre aus ihm herausgeholt und am Ende seine Sünde als so groß dargestellt, dass er fast dankbar war, als ihm ein Schlupfloch zur Wiedergutmachung geboten wurde. Der Schaden war angerichtet. Was blieb ihm nun anderes übrig, als sie zu heiraten oder wegzulaufen? Sich frech über alles hinwegsetzen konnte er nicht. Bestimmt würde es wegen der Affäre Gerede geben, und es würde gewiss seinem Chef zu Ohren kommen. Dublin ist ja eine so kleine Stadt: Jeder weiß, was der andere treibt. Er spürte, wie ihm das Herz wild im Halse schlug, als er in seiner erregten Phantasie den alten Mr Leonard mit schnarrender Stimme rufen hörte: Schicken Sie mir bitte Mr Doran her!
All die vielen Jahre treuer Dienste umsonst! All sein Eifer und Fleiß vergeudet! Natürlich hatte auch er Jugendtorheiten begangen. Er hatte sich mit seiner Freidenkerei gebrüstet und vor seinen Wirtshauskumpanen die ExistenzGottes geleugnet. Aber das war doch alles vorbei ... beinahe. Noch immer kaufte er sich jede Woche Reynolds’s Newspaper , aber er kam seinen religiösen Pflichten nach und führte während neun Zehnteln des Jahres ein stetiges Leben. Er besaß genug Geld, um einen Hausstand zu gründen; das war es nicht. Aber die Familie würde auf sie herabsehen. Da war erstens ihr unrühmlicher Vater, und dann kam die Pension ihrer Mutter allmählich in einen gewissen Ruf. Es ging ihm durch den Kopf, dass er drauf und dran war, in eine Falle zu gehen. Er sah schon im Geiste, wie seine Freunde über diese Affäre redeten und lachten. Sie war ja wirklich ein bisschen gewöhnlich. Manchmal sagte sie Ich tu ihn seh’n
Weitere Kostenlose Bücher