Dubliner (German Edition)
saß für eine kurze Weile auf der Bettkante und weinte. Dann trocknete sie ihre Tränen und ging zum Spiegel. Sie tauchte einen Zipfel des Handtuchs in den Wasserkrug und erfrischte sich die Augen mit dem kühlen Wasser. Sie betrachtete sich von der Seite und steckte über dem Ohr eine Haarnadel fest. Dann ging sie wieder zum Bett und setzte sich ans Fußende. Lange betrachtete sie die Kissen, deren Anblick in ihr geheime, angenehme Erinnerungenweckte. Sie lehnte ihren Nacken an das kühle eiserne Bettgestell und begann zu träumen. In ihrem Gesicht war keine Spur von Erregung mehr zu sehen.
Sie wartete geduldig, fast heiter, ohne Angst, und ihre Erinnerungen machten nach und nach Hoffnungen und Zukunftsträumen Platz. Ihre Hoffnungen und Träume waren so verworren, dass sie die weißen Kissen, auf die ihr Blick geheftet war, gar nicht mehr wahrnahm und ganz vergaß, dass sie auf etwas wartete.
Schließlich hörte sie ihre Mutter rufen. Sie sprang auf und rannte zum Treppengeländer.
– Polly! Polly!
– Ja, Mama?
– Komm herunter, Kind. Mr Doran möchte mit dir reden.
Da fiel ihr wieder ein, worauf sie gewartet hatte.
E INE KLEINE W OLKE
Acht Jahre zuvor hatte er seinen Freund am North Wall Quay * verabschiedet und ihm viel Glück gewünscht. Gallaher hatte es zu etwas gebracht. Man sah das sofort an seiner weltgewandten Art, seinem gut geschnittenen Tweedanzug und seiner ungenierten Ausdrucksweise. Wenige besaßen sein Talent, und nur ganz wenigen wäre so viel Erfolg nicht in den Kopf gestiegen. Gallaher trug das Herz am rechten Fleck, und er hatte das große Los verdient. Es war schon etwas, einen solchen Freund zu haben.
Little Chandler * war mit seinen Gedanken seit der Mittagspause bei seiner Verabredung mit Gallaher gewesen, bei Gallahers Einladung und bei der großartigen Stadt London, in der Gallaher lebte. Er wurde Little Chandler genannt, weil er, obwohl er nur von knapp unterdurchschnittlicher Größe war, den Eindruck eines kleinen Mannes machte. Seine Hände waren weiß und klein, seine Statur war zierlich, seine Stimme war leise und seine Umgangsformen waren kultiviert. Er pflegte sein blondes, seidiges Haar und seinen Schnurrbart mit größter Sorgfalt und parfümierte dezent sein Taschentuch. Die Halbmonde seiner Fingernägel waren makellos, und wenn er lächelte, sah man für einen Augenblick eine Reihe kindlich weißer Zähne.
Während er an seinem Schreibpult in den King’s Inns * saß, dachte er darüber nach, welche Veränderungen jene acht Jahre gebracht hatten. Aus dem Freund, den er damals als eine schäbige und ärmliche Erscheinung gekannt hatte,war eine glanzvolle Persönlichkeit der Londoner Pressewelt geworden. Er sah oft von seiner leidigen Schreibarbeit auf, um aus dem Fenster des Büros zu starren. Die Lichtglut einer untergehenden Spätherbstsonne deckte die Rasenstücke und Wege zu. Sie ließ freundlichen Goldstaub auf die schludrigen Kindermädchen niederrieseln und auf tatterige alte Männer, die auf den Bänken vor sich hin dösten; sie flimmerte auf allen sich bewegenden Gestalten – auf den Kindern, die lärmend auf den Kieswegen umherrannten und auf jedem, der durch den kleinen Park ging. Er verfolgte dieses Schauspiel und dachte über das Leben nach; und er wurde (wie immer, wenn er über das Leben nachdachte) traurig. Eine sanfte Schwermut nahm von ihm Besitz. Er spürte, wie sinnlos es war, gegen das Schicksal anzukämpfen; eben dieses war die Bürde der Weisheit, die die Jahrhunderte ihm hinterlassen hatten.
Er erinnerte sich an die Gedichtbände in seinen Bücherregalen zu Hause. Er hatte sie in seiner Junggesellenzeit gekauft, und an manchem Abend, wenn er in dem kleinen Zimmer neben der Diele saß, war er versucht gewesen, eines vom Regal zu nehmen und seiner Frau daraus etwas vorzulesen. Aber Schüchternheit hatte ihn immer davon abgehalten; und so waren die Bücher in ihren Regalen geblieben. Manchmal sagte er sich ein paar Verse auf, und das tröstete ihn.
Als seine Stunde gekommen war, stand er auf und verabschiedete sich gewissenhaft von seinem Schreibpult und seinen Kollegen. Er kam unter dem herrschaftlichen Torbogen der King’s Inns hervor, eine gepflegte, bescheidene Gestalt, und ging eilig die Henrietta Street hinunter. Der goldene Sonnenuntergang schwand allmählich, und die Luft war eisig geworden. Eine Horde schmuddeliger Kinder bevölkerte die Straße. Sie standen oder rannten auf dem Fahrdamm herum oder krochen die Stufen vor
Weitere Kostenlose Bücher