Dubliner (German Edition)
immer hatte er etwas Vielversprechendes an der Hand – mal ein Pferd, mal ein Mädchen vom Varieté. Außerdem wusste er mit seinen Fäusten etwas anzufangen, und er konnte lustige Lieder singen. Sonntagabends war in Mrs Mooneys vorderem Salon oft ein geselliges Beisammensein. Die Leute vom Varieté gaben etwas zum Besten, und Sheridan spielte Walzer und Polka oder improvisierte. Polly Mooney, die Tochter der Madame, sang auch. Sie sang:
Ich bin ein ... unartiges Mädchen.
Tut nur nicht so,
Ihr wisst, dass es so ist. *
Polly war ein schlankes Mädchen von neunzehn Jahren. Sie hatte helles, weiches Haar und einen kleinen, vollen Mund. Ihre Augen, grau mit einem Hauch von Grün, hatten die Angewohnheit, sich gen Himmel zu drehen, wenn sie mit jemandem sprach, was ihr das Aussehen einer unheiligen kleinen Madonna gab. Zuerst hatte Mrs Mooney ihre Tochter als Sekretärin in das Kontor eines Getreidehändlers geschickt, aber als ein übel beleumundeter Amtsgehilfe jeden zweiten Tag im Kontor erschien und bat, kurz mit seiner Tochter reden zu dürfen, hatte sie sie wieder heimgeholt und im Haushalt beschäftigt. Polly war sehr quirlig, und deshalb war es Absicht, dass sie den jungen Männern Gesellschaft leistete. Es ist ja so, dass junge Männer es ganz gern haben, wenn eine junge Frau in der Nähe ist. Natürlich flirtete Polly mit den jungen Männern, aber Mrs Mooney war eine gewiefte Menschenkennerin und wusste, dass die jungen Männer sich nur die Zeit vertrieben: Keiner von ihnen hatte ernste Absichten. So ging das eine ganze Zeit lang, und Mrs Mooney dachte schon daran, Polly wieder als Sekretärin zu schicken, als sie bemerkte, dass sich zwischen Polly und einem der jungen Männer etwas anspann. Sie beobachtete das Pärchen und hielt sich zurück.
Polly wusste, dass sie beobachtet wurde, aber missverständlich war dieses beharrliche Schweigen ihrer Mutter gleichwohl nicht. Zwischen Mutter und Tochter hatte es keine offene Komplizenschaft, kein offenes Einverständnis gegeben, aber auch als die Leute im Haus über die Affäre zu tuscheln begannen, griff Mrs Mooney nicht ein. Pollys Verhalten wurde ein wenig sonderbar, und der junge Mann war offensichtlich beunruhigt. Als sie den richtigen Augenblick für gekommen hielt, griff Mrs Mooney schließlich doch ein. Sie ging an moralische Probleme so heran wie ein Metzgerbeil an ein Stück Fleisch: Und in diesem Fall hatte sie ihr Urteil gefällt.
Es war ein strahlender Sonntagmorgen im Frühsommer; er versprach heiß zu werden, aber mit einer frischen Brise. Alle Fenster der Pension standen offen, und die Tüllgardinen bauschten sich unter den hochgeschobenen Fensterhälften leicht zur Straße hinaus. Vom Glockenturm der George’s Church ertönte anhaltendes Läuten, und die Gläubigen, die einzeln oder zu mehreren das kleine Rondell vor der Kirche querten, gaben durch ihr in sich gekehrtes Verhalten ebenso wie durch die kleinen Bücher in ihren behandschuhten Händen ihr Ziel zu erkennen. Das Frühstück in der Pension war vorüber, und auf dem Tisch im Frühstückszimmer standen überall Teller mit verschmiertem Eigelb und Resten von gebratenem Speck und Speckschwarte. Mrs Mooney saß im Korbsessel und passte auf, wie Mary, das Hausmädchen, das Frühstücksgeschirr abräumte. Sie wies Mary an, die Brotkrusten und Krümel für den Brotpudding am Dienstag aufzuheben. Als der Tisch abgeräumt, die Brotreste eingesammelt und Zucker und Butter sicher weggeschlossen waren, ging sie noch einmal das Gespräch durch, das sie am Abend zuvor mit Polly geführt hatte. Es war, wie sie es vermutet hatte: Sie hatte geradeheraus gefragt, und Polly hatte geradeheraus geantwortet. Beide waren natürlich ein bisschen verlegen gewesen. Sie war verlegen gewesen, weil sie nicht den Eindruck erwecken wollte, als nähme sie die Nachricht seelenruhig hin oder als hätte sie ein Auge zugedrückt; und Polly war nicht nur verlegen gewesen, weil Andeutungen dieser Art sie immer verlegen machten, sondern auch weil sie außerdem nicht wollte, dass man annahm, in ihrer klugen Unschuld hätte sie die Absicht hinter dem duldsamen Verhalten ihrer Mutter erraten.
Mrs Mooney sah unwillkürlich zu der kleinen vergoldeten Uhr auf dem Kaminsims hinüber, als sie in ihrer Geistesabwesenheit wahrnahm, dass das Läuten von St. George’s Church aufgehört hatte. Es war siebzehn Minuten nach elf:Ihr blieb also genug Zeit, die Angelegenheit mit Mr Doran zu klären und trotzdem noch die kurze
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