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Dubliner (German Edition)

Dubliner (German Edition)

Titel: Dubliner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Joyce
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dengähnend offenen Türen hinauf oder kauerten wie Mäuse auf den Türschwellen. Little Chandler nahm keine Notiz von ihnen. Behänd suchte er sich seinen Weg durch all dieses ungezieferhafte Gewimmel im Schatten der hageren, geisterhaften Herrschaftshäuser, in denen der alte Dubliner Adel einst auf die Pauke gehauen hatte. Keine Erinnerung an die Vergangenheit berührte ihn, denn er war mit seinen Gedanken ganz bei einer gegenwärtigen Freude.
    Er war noch nie bei Corless gewesen, aber er wusste um das Gewicht dieses Namens. Er wusste, dass man nach dem Theater dorthin ging, um Austern zu essen und Liköre zu trinken; und er hatte gehört, dass die Kellner dort Französisch und Deutsch sprächen. Wenn er abends rasch vorbeigegangen war, hatte er Droschken vorfahren und reich gekleidete Damen, begleitet von Kavalieren, aussteigen und rasch eintreten sehen. Sie trugen raschelnde Kleider und viele Umhänge. Ihre Gesichter waren gepudert, und sie rafften wie verschreckte Atalantas * ihre Röcke, wenn diese den Boden streiften. Er war immer vorübergegangen, ohne den Blick zur Seite zu wenden. Es war seine Angewohnheit, raschen Schrittes durch die Straßen zu gehen, sogar bei Tag, und wenn er sich spätnachts in der Stadt befand, hastete er angespannt und nervös seines Wegs. Manchmal jedoch stellte er sich den Ursachen seiner Furcht. Er suchte sich die finstersten und engsten Gassen aus, und während er kühn voranschritt, beunruhigte ihn die Stille, die seine Schritte umgab, beunruhigten ihn die stumm umherstreifenden Gestalten; und manchmal ließ ihn das Geräusch eines leisen flüchtigen Lachens erzittern wie ein Blatt.
    Er bog nach rechts in Richtung Capel Street ab. Ignatius Gallaher bei der Londoner Presse! Wer hätte das vor acht Jahren für möglich gehalten? Doch als er jetzt die Vergangenheit überprüfte, konnte sich Little Chandler an viele Zeichen zukünftiger Größe bei seinem Freund erinnern.Die Leute sagten stets, dass Ignatius Gallaher zügellos sei. Natürlich, er verkehrte damals mit allerhand fragwürdigen Kerlen, trank reichlich und pumpte sich überall Geld. Am Ende war er in irgendeine dunkle Affäre verstrickt worden, irgendwelche Geldgeschäfte: Zumindest wurde das als ein Grund für seine Flucht genannt. Aber Talent sprach ihm niemand ab. Da war immer ein gewisses ... Etwas an Ignatius Gallaher, das einen unwillkürlich beeindruckte. Selbst wenn er völlig abgebrannt war und keine Ahnung hatte, woher er Geld nehmen sollte, setzte er ein dreistes Gesicht auf. Little Chandler erinnerte sich (und bei dieser Erinnerung stieg ihm vor Stolz eine leichte Röte in seine Wangen) an eine von Ignatius Gallahers Redensarten, wenn er in die Enge getrieben war:
    – Nun macht mal halblang, Jungs, sagte er dann unbekümmert. Wo hab ich denn meine Denkmütze?
    Das war Ignatius Gallaher in Lebensgröße; und, verdammt noch mal, man konnte ihn dafür nur bewundern.
    Little Chandler beschleunigte seine Schritte. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich den Menschen überlegen, an denen er vorüberging. Zum ersten Mal lehnte er sich innerlich gegen die dumpfe Hässlichkeit der Capel Street auf. Es gab keinen Zweifel: Wenn man erfolgreich sein wollte, musste man von hier weggehen. In Dublin konnte man nichts erreichen. Als er die Grattan Bridge überquerte, sah er flussabwärts auf die unteren Quays und bedauerte die armseligen, verkümmerten Häuser. Sie erschienen ihm wie ein Haufen Landstreicher, die sich an den Flussufern aneinanderkauerten, ihre alten Mäntel von Staub und Ruß bedeckt, und die, vom Panorama des Sonnenuntergangs gebannt, auf die erste Kühle der Nacht warteten, die sie auffordern würde aufzustehen, sich zu schütteln und sich davonzumachen. Er fragte sich, ob er ein Gedicht schreiben könnte, um seine Vorstellung auszudrücken. Vielleicht warGallaher in der Lage, das für ihn in einer Londoner Zeitung unterzubringen. Ob er etwas Originelles schreiben konnte? Er war sich nicht sicher, was er ausdrücken wollte, aber das Gefühl, dass ein dichterischer Augenblick ihn gestreift hatte, erweckte in ihm den zarten Keim einer Hoffnung zum Leben. Er schritt tapfer voran.
    Jeder Schritt brachte ihn London näher, entfernte ihn von seinem eigenen nüchternen, unkünstlerischen Dasein. Ein Licht begann aufzuflackern am Horizont seiner Gedanken. Er war nicht so alt – zweiunddreißig. Sein Naturell, könnte man sagen, war gerade am Punkt seiner Reife angelangt. Es gab so viele verschiedene

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