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Dubliner (German Edition)

Dubliner (German Edition)

Titel: Dubliner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Joyce
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schlechte Laune und war kurz angebunden. Sie sagte, sie brauche nichts zum Abendessen, aber als die Zeit näher kam, zu der der Laden an der Ecke zumachte, beschloss sie, selbst hinzugehen und ein Viertelpfund Tee und zwei Pfund Zucker zu kaufen. Sie legte ihm das schlafende Kind flink in die Arme und sagte:
    – Hier. Weck ihn nicht auf!
    Eine kleine Lampe mit einem weißen Porzellanschirm stand auf dem Tisch, und ihr Licht fiel auf eine Fotografie, die in einem geriffelten Hornrahmen steckte. Es warein Foto von Annie. Little Chandler betrachtete es, hielt inne bei den schmalen, geschlossenen Lippen. Sie trug die blassblaue Sommerbluse, die er ihr eines Samstags als Geschenk mit heimgebracht hatte. Sie hatte ihn zehn Shilling und elf Pence gekostet; aber welche Qualen und Ängste sie ihm gekostet hatte! Wie hatte er an diesem Tag gelitten, als er vor der Ladentür wartete, bis das Geschäft leer war, als er dann am Ladentisch stand und sich bemühte, gelassen zu wirken, während die Verkäuferin Damenblusen vor ihm auftürmte, als er an der Kasse bezahlte und den Penny Wechselgeld vergaß und der Kassierer ihn zurückrief, und als er schließlich beim Verlassen des Ladens versuchte, seine Röte zu verbergen, indem er nachsah, ob das Päckchen gut verschnürt war. Als er die Bluse nach Hause brachte, küsste ihn Annie und sagte, sie sei sehr hübsch und modisch; doch als sie den Preis hörte, warf sie die Bluse auf den Tisch und sagte, es sei ein ausgemachter Schwindel, dafür zehn Shilling und elf Pence zu verlangen. Zuerst wollte sie sie zurückbringen, aber als sie die Bluse dann anprobierte, war sie begeistert, besonders vom Schnitt der Ärmel, und küsste ihn und sagte, es sei sehr lieb von ihm, dass er an sie gedacht habe.
    Hm! ...
    Er sah kalt in die Augen auf dem Foto, und sie antworteten kalt. Gewiss waren sie hübsch, und auch das Gesicht selber. Aber er entdeckte darin etwas Spießiges. Warum war es so teilnahmslos und damenhaft? Der Gleichmut der Augen irritierte ihn. Sie wiesen ihn zurück und trotzten ihm; da war keine Leidenschaft darin, keine Verzückung. Er dachte daran, was Gallaher über reiche Jüdinnen gesagt hatte. Diese dunklen, orientalischen Augen, dachte er, wie erfüllt sie sind von Leidenschaft, von hingebungsvollem Verlangen! ... Warum hatte er die Augen auf dem Foto geheiratet?
    Er ertappte sich bei dieser Frage und blickte unruhig im Zimmer umher. Er entdeckte etwas Spießiges an den hübschen Möbeln, die er für sein Haus auf Raten gekauft hatte. Annie hatte sie selbst ausgesucht, und sie erinnerten ihn an sie. Auch sie waren steif und hübsch. Ein dumpfer Groll auf sein Leben erwachte in ihm. Konnte er nicht fliehen aus seinem kleinen Haus? War es zu spät für ihn zu versuchen, ein mutiges Leben wie Gallaher zu leben? Könnte er nach London gehen? Es gab noch die Möbel, die abbezahlt werden mussten. Wenn er nur ein Buch schreiben und veröffentlichen könnte, das könnte ihm den Weg öffnen.
    Ein Band mit Byrons Gedichten lag vor ihm auf dem Tisch. Er schlug ihn vorsichtig mit der linken Hand auf, um das Kind nicht zu wecken, und begann das erste Gedicht in dem Buch zu lesen:
    Still ist der Abend, keine Lüfte wehen,
    Kein Zephir atmet in dem düst’ren Hain
    An Margaretes Grab, wohin ich gehe,
    Um Blumen auf den teuren Staub zu streu’n. *
    Er hielt inne. Er fühlte den Rhythmus der Verse um sich im Raum. Wie schwermütig das war! Konnte er auch so schreiben, die Schwermut seiner Seele in Versen ausdrücken? Es gab so viele Dinge, die er beschreiben wollte: die Empfindung, die er einige Stunden zuvor auf der Grattan Bridge gehabt hatte, zum Beispiel. Wenn er sich wieder in diese Stimmung zurückversetzen könnte ...
    Das Kind wachte auf und fing an zu weinen. Er sah von seinem Buch auf und versuchte, es zu trösten: Doch es wollte sich nicht trösten lassen. Er begann, es in seinen Armen hin- und herzuwiegen, doch das jämmerliche Weinen wurde heftiger. Er wiegte es schneller, während seine Augen begannen, die zweite Strophe zu lesen:
    In dieser engen Zelle liegt ihr Staub,
    Der Staub, der einst ...
    Es war sinnlos. Er konnte nicht lesen. Er konnte überhaupt nichts tun. Das Greinen des Kindes bohrte sich in sein Trommelfell. Es war sinnlos, sinnlos! Er war für den Rest seines Lebens ein Gefangener. Seine Arme zitterten vor Zorn, und plötzlich beugte er sich über das Gesicht des Kindes und schrie:
    – Hör auf!
    Das Kind verstummte einen Augenblick lang, verkrampfte sich

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