Dubliner (German Edition)

Ignatius Gallaher. O’Hara scheint es nicht gut zu gehen. Was treibt er?
    – Nichts, sagte Little Chandler. Er ist auf den Hund gekommen.
    – Aber Hogan hat einen guten Posten, oder?
    – Ja, er ist in der Land Commission * .
    – Ich hab ihn mal nachts in London getroffen, und er schien ganz gut bezastert zu sein ... Armer O’Hara! Säuft, vermute ich?
    – Unter anderem, sagte Little Chandler knapp.
    Ignatius Gallaher lachte.
    – Tommy, sagte er, ich merke, du hast dich nicht im Geringsten verändert. Du bist noch der gleiche humorlose Mensch, der mir ständig sonntagmorgens Vorhaltungen gemacht hat, wenn ich einen Brummschädel und eine pelzige Zunge hatte. Du müsstest dich ein bisschen in der Welt umsehen. Bist du nie weg gewesen, zumindest auf einen kleinen Ausflug?
    – Ich war mal auf der Isle of Man, sagte Little Chandler.
    Ignatius Gallaher lachte.
    – Auf der Isle of Man!, sagte er. Geh nach London oder Paris: Paris, wenn du die Wahl hast. Das würde dir guttun.
    – Hast du Paris gesehen?
    – Das will ich meinen! Ich hab mich dort ein wenig herumgetrieben.
    – Und ist es wirklich so schön, wie alle sagen?, fragte Little Chandler.
    Er nippte an seinem Drink, während Ignatius Gallaher seinen in einem Zug hinunterkippte.
    – Schön?, sagte Ignatius Gallaher und ließ dieses Wort und den Geschmack seines Whiskys nachwirken. So schön ist es gar nicht, weißt du. Sicher, es ist schön ... Aber es ist das Pariser Leben; das ist das Entscheidende. Ah, nur in Paris gibt’s diese Beschwingtheit, dieses Tempo, diesen Nervenkitzel ...
    Little Chandler trank seinen Whisky aus, und nach einiger Mühe gelang es ihm, den Blick des Barmanns auf sich zu lenken. Er bestellte dasselbe noch einmal.
    – Ich bin im Moulin Rouge gewesen, fuhr Ignatius Gallaher fort, als der Barmann ihre Gläser abgeräumt hatte, und in sämtlichen Künstlercafés. Scharfe Sache! Nichts für einen lammfrommen Kerl wie dich, Tommy.
    Little Chandler schwieg, bis der Barmann mit den beidenGläsern zurückkam: Dann stieß er leicht das Glas seines Freundes an und erwiderte dessen Trinkspruch von vorhin. Er merkte, wie seine Illusionen zu schwinden begannen. Die Art, wie Gallaher sprach und sich ausdrückte, gefiel ihm nicht. Sein Freund hatte etwas Ordinäres an sich, das ihm früher nie aufgefallen war. Aber vielleicht kam das nur von dem Leben in London und der Hektik und dem Konkurrenzkampf der Zeitungsleute um ihn herum. Der alte persönliche Charme war immer noch da unter diesem neuen großspurigen Gehabe. Und schließlich hatte Gallaher gelebt, er hatte die Welt gesehen. Little Chandler sah seinen Freund neidisch an.
    – Alles in Paris ist Lebenslust, sagte Ignatius Gallaher. Sie glauben zutiefst, dass man das Leben genießen muss – und findest du nicht auch, dass sie recht haben? Wenn du dich richtig amüsieren willst, musst du nach Paris gehen. Und stell dir vor, dort sind sie ganz begeistert von den Iren. Als sie hörten, dass ich aus Irland komme, waren sie richtig scharf auf mich, Mann.
    Little Chandler nippte vier- oder fünfmal an seinem Glas.
    – Sag mal, sagte er, stimmt es, dass Paris so ... unmoralisch ist, wie man sagt?
    Ignatius Gallaher machte eine weit ausholende Bewegung mit dem rechten Arm.
    – Überall ist es unmoralisch, sagte er. Natürlich hat Paris seine pikanten Seiten. Geh zum Beispiel auf einen der Studentenbälle. Da ist was gefällig, sag ich dir, wenn die Kokotten in Fahrt kommen. Du weißt doch, was Kokotten sind, oder?
    – Ich hab davon gehört, sagte Little Chandler.
    Ignatius Gallaher trank seinen Whisky aus und schüttelte den Kopf.
    – Ah, sagte er, da kann man sagen, was man will. An die Parisienne reicht keine andere Frau heran – ihre Klasse, ihr Feuer.
    – Dann ist es eine unmoralische Stadt, sagte Little Chandler mit schüchterner Beharrlichkeit – ich meine, verglichen mit London oder Dublin?
    – London!, rief Ignatius Gallaher aus. Das ist doch Jacke wie Hose. Frag Hogan, mein Junge. Ich hab ihm ein bisschen was von London gezeigt, als er drüben war. Der würde dir die Augen öffnen ... He, Tommy, mach keinen Punsch aus deinem Whisky: Runter damit!
    – Nein, wirklich ...
    – Ach, komm schon, einer mehr wird dir nicht schaden. Was nimmst du? Nochmal dasselbe, nehme ich an?
    – Na ... also gut.
    – François , dasselbe noch mal! Willst du was rauchen, Tommy?
    Ignatius Gallaher kramte sein Zigarrenetui hervor. Die beiden Freunde zündeten sich ihre Zigarren an und pafften