Dubliner (German Edition)
vor Schreck und fing an zu brüllen. Er sprang vom Stuhl auf und ging hastig mit dem Kind im Arm im Zimmer auf und ab. Es fing an, erbärmlich zu schluchzen, geriet vier oder fünf Sekunden lang außer Atem, dann brach es wieder aus ihm hervor. Die dünnen Wände des Zimmers warfen sein Wimmern zurück. Er versuchte, es zu besänftigen, aber es schluchzte nur noch heftiger. Er schaute in das verzerrte, zitternde Gesicht des Kindes und begann sich zu ängstigen. Er zählte sieben Schluchzer * hintereinander und presste das Kind angstvoll an seine Brust. Wenn es starb! ...
Die Tür wurde aufgestoßen, und eine junge Frau stürzte keuchend herein.
– Was ist los? Was ist los?, schrie sie.
Als das Kind die Stimme seiner Mutter hörte, brach es in krampfartiges Schluchzen aus.
– Es ist nichts, Annie ... es ist nichts ... Er fing an zu weinen ...
Sie schleuderte ihre Päckchen auf den Boden und entriss ihm das Kind.
– Was hast du mit ihm gemacht?, schrie sie, in sein Gesicht blitzend.
Little Chandler hielt für einen Augenblick dem starren Ausdruck ihrer Augen stand, und sein Herz zog sich zusammen,als er den Hass in ihnen wahrnahm. Er fing an zu stammeln:
– Es ist nichts ... Er ... er fing an zu weinen ... Ich konnte nicht ... Ich hab gar nichts getan ... Was?
Ohne ihn zu beachten, fing sie an, im Zimmer auf und ab zu gehen, während sie das Kind fest in die Arme schloss und murmelte:
– Mein kleiner Mann! Mein Männlein! Hast du Angst gehabt, Liebling? ... Ist ja gut, Liebling, ist ja gut! ... Mein Lämmchen! Mamas kleines Lamm der Welt... Ist ja gut!
Little Chandler fühlte, wie Schamröte seine Wangen überflutete, und er trat zurück aus dem Lichtschein der Lampe. Er konnte hören, wie das krampfartige Schluchzen schwächer und schwächer wurde; und Tränen der Reue traten ihm in die Augen.
G EGENSTÜCKE
Die Signalglocke läutete wütend, und als Miss Parker an das Sprechrohr ging, schallte ihr eine wütende Stimme in einem schneidenden nordirischen Tonfall entgegen:
– Schicken Sie Farrington her!
Miss Parker kehrte zu ihrer Schreibmaschine zurück und sagte zu einem Mann, der an einem Pult schrieb:
– Mr Alleyne möchte, dass Sie hinaufkommen.
Der Mann murmelte kaum hörbar Zum Teufel mit ihm! und schob seinen Stuhl zurück, um aufzustehen. Als er sich aufrichtete, war er groß und korpulent. Sein dunkles, weinrotes Gesicht hatte schlaffe Züge, Augenbrauen und Schnurrbart waren blond: Er hatte leicht vorstehende Augen, und das Weiß darin war schmutzfarben. Er klappte den Bürotresen hoch und ging mit schweren Schritten an den Klienten vorbei aus dem Kontor.
Schwerfällig ging er die Treppe hinauf bis zur zweiten Etage, wo ein Messingschild an einer Tür die Aufschrift Mr Alleyne trug. Hier blieb er stehen, vor Anstrengung und Zorn schwer atmend, und klopfte an. Die schrille Stimme rief:
– Herein!
Der Mann betrat Mr Alleynes Büro. Im selben Augenblick reckte Mr Alleyne, ein kleiner Mann mit Goldrandbrille und einem glatt rasierten Gesicht, seinen Kopf ruckartig über einen Stapel Dokumente. Dieser Kopf war so rosig und poliert, dass es aussah, als läge ein großes Ei oben auf den Papieren. Mr Alleyne kam sofort zur Sache:
– Farrington, was hat das zu bedeuten! Warum geben Sie mir immer Anlass zu Beschwerden? Darf ich fragen, warum Sie noch keine Kopie des Vertrags * zwischen Bodley und Kirwan angefertigt haben? Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass sie bis vier Uhr fertig sein muss.
– Aber Mr Shelley hat gesagt, Sir ...
– Mr Shelley hat gesagt, Sir ... Halten Sie sich gefälligst an das, was ich sage, und nicht an das, was Mr Shelley sagt, Sir . Immer haben Sie irgendeine Ausrede, um sich vor der Arbeit zu drücken. Ich will Ihnen eins sagen: Wenn der Vertrag nicht bis heute Abend kopiert ist, werde ich die Sache Mr Crosbie vorlegen ... Haben Sie mich jetzt verstanden?
– Ja, Sir.
– Haben Sie mich jetzt verstanden? ... Ach, und noch eine Kleinigkeit. Was man Ihnen sagt, ist ja wie an die Wand geredet. Merken Sie sich ein für alle Mal, dass Sie eine halbe Stunde Mittagspause haben und nicht anderthalb Stunden. Wie viele Gänge bestellen Sie sich denn, das wüsste ich gerne. ... Ist das jetzt klar?
– Ja, Sir.
Mr Alleyne beugte seinen Kopf wieder über den Papierstapel. Der Mann sah starr auf den polierten Schädel, der die Geschäfte von Crosbie & Alleyne lenkte, und versuchte abzuschätzen, wie zerbrechlich er wohl war. Einige Augenblicke lang würgte ihn ein
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