Dubliner (German Edition)
schweigend, bis ihre Getränke serviert wurden.
– Ich will dir sagen, was ich denke, begann Ignatius Gallaher, als er nach einiger Zeit aus den Rauchwolken auftauchte, in denen er eine Zeit lang Zuflucht gesucht hatte, es ist schon eine komische Welt. Was heißt da Unmoral! Ich habe von Fällen gehört – was sag ich? –, ich habe sie erlebt: Fälle von ... Unmoral ...
Ignatius Gallaher paffte nachdenklich an seiner Zigarre und machte sich daran, im nüchternen Ton eines Geschichtsschreibers seinem Freund Bilder der Sittenlosigkeit zu entwerfen, die im Ausland um sich gegriffen hatte. Er zählte die Laster vieler Hauptstädte auf, wobei er geneigt schien, Berlin die Siegespalme zuzusprechen. Für einiges konnte er sich nicht verbürgen (seine Freunde hatten ihm davon erzählt), aber andere Dinge hatte er persönlich erlebt. Er nahm weder auf Rang noch auf Herkunft Rücksicht. Er enthüllte viele Geheimnisse von Ordenshäusern auf dem Kontinent und beschrieb einige der Praktiken, die in derfeinen Gesellschaft als schick galten, und er schloss mit einer in Einzelheiten gehenden Geschichte über eine englische Herzogin – einer Geschichte, von der er wusste, dass sie wahr war. Little Chandler war erstaunt.
– Tja, sagte Ignatius Gallaher, hier sind wir im alten Dublin, wo alles seinen Trott geht und niemand von solchen Dingen eine Ahnung hat.
– Wie eintönig es dir vorkommen muss, sagte Little Chandler, nach all den Orten, die du gesehen hast!
– Ach, weißt du, sagte Ignatius Gallaher, es ist eine Erholung, hier herüberzukommen. Und schließlich ist es die alte Heimat, wie man so sagt, nicht? Da kann man sich eines gewissen Gefühls nicht erwehren. Das liegt in der Natur des Menschen. ... Aber jetzt erzähl mir etwas von dir. Hogan hat gesagt, du hättest ... die Freuden des Ehestandes gekostet. Seit zwei Jahren, nicht wahr?
Little Chandler lief rot an und lächelte.
– Ja, sagte er. Ich habe im Mai vor einem Jahr geheiratet.
– Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät, meine besten Glückwünsche auszusprechen, sagte Ignatius Gallaher. Ich kannte deine Adresse nicht, sonst hätte ich das schon damals getan.
Er streckte die Hand aus, die Little Chandler ergriff.
– Also, Tommy, sagte er, ich wünsche dir und der Deinen alles Gute im Leben, alter Knabe, und haufenweise Geld, und mögest du nicht sterben, bevor ich dich erschieße. Und das ist der Wunsch eines aufrichtigen Freundes, eines alten Freundes. Das weißt du doch?
– Das weiß ich, sagte Little Chandler.
– Schon Nachwuchs?, sagte Ignatius Gallaher.
Little Chandler errötete wieder.
– Wir haben ein Kind, sagte er.
– Sohn oder Tochter?
– Einen kleinen Jungen.
Ignatius Gallaher schlug seinem Freund auf die Schulter, dass es dröhnte.
– Bravo, sagte er. Ich hätte nie an dir gezweifelt, Tommy.
Little Chandler lächelte, schaute verlegen auf sein Glas und biss sich mit drei kindlich weißen Schneidezähnen auf die Unterlippe.
– Ich hoffe, du kommst mal auf einen Abend zu uns, sagte er, bevor du wieder zurückfährst. Meine Frau würde sich freuen, dich kennenzulernen. Wir könnten ein bisschen musizieren, und ...
– Tausend Dank, alter Knabe, sagte Ignatius Gallaher. Schade, dass wir uns nicht früher getroffen haben. Aber ich muss schon morgen Abend fahren.
– Heute Abend vielleicht ...?
– Tut mir furchtbar leid, alter Junge. Weißt du, ich bin mit einem anderen Kumpel herübergekommen, übrigens ein ganz gewitzter Kerl, und wir haben für heute Abend eine kleine Kartenpartie vereinbart. Wenn das nicht wäre ...
– Oh, wenn das so ist...
– Aber wer weiß?, sagte Ignatius Gallaher einlenkend. Vielleicht komme ich nächstes Jahr mal auf einen Sprung herüber, jetzt, wo das Eis gebrochen ist. Das Vergnügen ist nur aufgeschoben.
– Also gut, sagte Little Chandler, wenn du das nächste Mal kommst, müssen wir einen Abend zusammen verbringen. Das ist abgemacht, ja?
– Ja, abgemacht, sagte Ignatius Gallaher. Nächstes Jahr, wenn ich wiederkomme, parole d’honneur * .
– Und um das zu besiegeln, sagte Little Chandler, trinken wir jetzt noch einen.
Ignatius Gallaher zog eine große goldene Taschenuhr hervor und warf einen Blick darauf.
– Das ist dann aber der Letzte?, sagte er. Denn du weißt, ich hab noch eine Verabredung.
– Oh ja, gewiss, sagte Little Chandler.
– Also gut, trinken wir noch einen, als deoc an doruis * – wie man, glaube ich, in unserer Landessprache so schön für einen kleinen
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