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Dubliner (German Edition)

Dubliner (German Edition)

Titel: Dubliner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Joyce
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Mann umsichtig den Haushalt geführt. Ihre beiden ältesten Söhne waren schon aus dem Haus. Der eine arbeitete in einem Textilgeschäft in Glasgow, und der andere war bei einem Teehändler in Belfast angestellt. Es waren gute Söhne, die regelmäßig schrieben und hin und wieder Geld nach Hause schickten. Die anderen Kinder gingen noch zur Schule.
    Am nächsten Tag schickte Mr Kernan einen Brief ins Büro und blieb im Bett. Sie bereitete ihm Kraftbrühe und schimpfte ordentlich mit ihm. Sie nahm seine regelmäßigen alkoholischen Exzesse hin wie das Wetter, pflegte ihn pflichtbewusst, wenn es ihm schlecht ging, und versuchte stets, ihn zu bewegen, etwas zum Frühstück zu essen. Es gab schlimmere Ehemänner. Er war nicht mehr gewalttätig geworden, seit die Jungen groß waren, und sie wusste, dass er zu Fuß bis ans Ende der Thomas Street und zurück gehen würde, um eine Bestellung zu erhalten, und sei sie noch so klein.
    Zwei Abende später kamen seine Freunde ihn besuchen. Sie führte sie in sein Schlafzimmer, in dem die Luft schwer war von einem ihm eigentümlichen Duft, und bot ihnen Stühle am Kamin an. Mr Kernans Zunge, deren gelegentliche stechende Schmerzen ihn während des Tages etwas reizbar gemacht hatten, wurde nun höflicher. Er saß aufrecht im Bett, von Kissen gestützt, und die leichte Rötung seiner gedunsenen Wangen erinnerte an Glut unter der Asche. Er entschuldigte sich bei seinen Gästen für die Unordnung im Zimmer, aber zugleich sah er sie mit einem gewissen Stolz an, dem Stolz eines Veteranen.
    Er ahnte nicht, dass er das Opfer eines Komplotts war, das seine Freunde, Mr Cunningham, Mr M’Coy und Mr Power, Mrs Kernan im Wohnzimmer enthüllt hatten. Die Idee dazu stammte von Mr Power, aber mit der Durchführung war Mr Cunningham betraut worden. Mr Kernan stammte aus einer protestantischen Familie, und obwohl er zum Zeitpunkt seiner Heirat zum katholischen Glauben übergetreten war, hatte er sich seit zwanzig Jahren von der römischen Kirche ferngehalten. Außerdem stichelte er gerne gegen alles Katholische.
    In einem Fall wie diesem war Mr Cunningham genau der Richtige. Er war ein älterer Kollege von Mr Power. Sein eigenes Familienleben war nicht sehr glücklich. Die Leute hatten viel Mitgefühl mit ihm, denn es war bekannt, dass er eine nicht vorzeigbare Frau geheiratet hatte, eine unheilbare Trinkerin. Sechsmal hatte er ihr einen Haushalt eingerichtet, und jedes Mal hatte sie die Möbel hinter seinem Rücken zum Pfandleiher getragen.
    Alle hatten große Achtung vor dem armen Martin Cunningham. Er war ein durch und durch vernünftiger Mann, einflussreich und gescheit. Die Klinge seiner Menschenkenntnis, natürliche Klugheit, angereichert durch langjährige Erfahrung mit Fällen vor den Polizeigerichten,war durch kurzes Eintauchen in das Wasser allgemeiner Weisheit gehärtet worden. Er wusste gut Bescheid. Seine Freunde schlossen sich seinen Ansichten an und waren der Meinung, dass er Shakespeare ähnlich sehe.
    Als man Mrs Kernan über das Komplott ins Bild gesetzt hatte, sagte sie:
    – Ich überlasse das ganz Ihnen, Mr Cunningham.
    Nach einem Vierteljahrhundert Eheleben machte sie sich kaum noch irgendwelche Illusionen. Religion war für sie eine Gewohnheitssache, und sie vermutete, dass jemand im Alter ihres Mannes sich bis zu seinem Tod nicht mehr wesentlich ändern werde. Sie war versucht, seinen Unfall als etwas ihm sonderbar Gebührendes zu betrachten, und sie hätte den Herren gerne gesagt, dass es der Zunge von Mr Kernan guttun würde, ein wenig gekürzt zu werden, aber sie wollte nicht grausam erscheinen. Mr Cunningham war jedenfalls ein fähiger Mann; und Religion war Religion. Das Vorhaben könnte ja etwas Gutes bewirken, und zumindest konnte es nicht schaden. Ihre Glaubensvorstellungen waren keineswegs extravagant. Sie glaubte fest an das Herz Jesu * als die allgemein nützlichste Form katholischer Frömmigkeit und sie bejahte die Sakramente. Ihr Glaube war durch ihre Küche begrenzt, aber wenn nötig, konnte sie auch an Banshees * und an den Heiligen Geist glauben.
    Die Herren fingen an, über den Unfall zu sprechen. Mr Cunningham sagte, er habe einmal einen ähnlichen Fall erlebt. Ein Mann von siebzig hatte sich bei einem epileptischen Anfall ein Stück seiner Zunge abgebissen, aber dieses Stück sei nachgewachsen, sodass man von dem Biss keine Spur mehr sehen konnte.
    – Ich bin aber noch nicht siebzig, sagte der Patient.
    – Gott behüte, sagte Mr Cunningham.
    – Und

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