Dubliner (German Edition)
London, E.C. * Auf dem Kaminsims in diesem kleinen Büro stand ein Bataillon kleiner Bleibehälter aufgereiht, und auf dem Tisch am Fenster standen vier oder fünf Porzellanschalen, die für gewöhnlich zur Hälfte mit einer schwarzen Flüssigkeit gefüllt waren. Diesen Schalen entnahm Mr Kernan Tee, um ihn zu verkosten. Er nahm einen Mundvoll, sog ihn ein,ließ ihn auf seinen Gaumen einwirken und spie ihn dann in den Kamin. Dann nahm er sich Zeit, um zu einem Urteil zu kommen.
Mr Power, der weit jünger war, stand im Dienst der Royal Irish Constabulary * im Dublin Castle * . Die Kurve seines gesellschaftlichen Aufstiegs überschnitt sich mit der Kurve des Abstiegs seines Freundes, aber Mr Kernans Abstieg wurde durch die Tatsache gemildert, dass einige seiner Freunde, die ihn auf dem Höhepunkt seines Erfolges gekannt hatten, ihn immer noch als Original zu schätzen wussten. Mr Power war einer von diesen Freunden. Seine unerklärlichen Schulden waren in seiner Umgebung sprichwörtlich; er war ein charmanter junger Mann.
Der Wagen hielt vor einem kleinen Haus an der Glasnevin Road, und man half Mr Kernan ins Haus hinein. Seine Frau brachte ihn zu Bett, und Mr Power saß währenddessen unten in der Küche und fragte die Kinder, wo sie zur Schule gingen und in welcher Klasse sie seien. Die Kinder, zwei Mädchen und ein Junge, nutzten die Hilflosigkeit ihres Vaters und die Abwesenheit der Mutter aus und trieben mit ihm allerhand Schabernack. Ihr Betragen und ihre Aussprache überraschten ihn, und auf seiner Stirn erschienen nachdenkliche Falten. Nach einiger Zeit betrat Mrs Kernan die Küche und rief:
– Wie der nur aussieht! Der säuft sich noch zu Tode, das ist so sicher wie ’s Amen in der Kirche! Er trinkt schon seit Freitag.
Mr Power war darauf bedacht, ihr zu erklären, dass ihn keine Schuld treffe und dass er nur zufällig am Ort des Geschehens gewesen sei. Mrs Kernan, die sich an Mr Powers schlichtende Rolle bei häuslichen Auseinandersetzungen und an zahlreiche kleine, aber sehr willkommene Darlehen erinnerte, sagte:
– Oh, das brauchen Sie mir gar nicht zu sagen, MrPower. Ich weiß, Sie sind ein Freund von ihm und nicht wie manche anderen, mit denen er sich rumtreibt. Die sind in Ordnung, solange er Geld in der Tasche hat, das ihn von Frau und Kindern fernhält. Schöne Freunde sind das! Ich möchte bloß wissen, mit wem er heute Abend zusammen war.
Mr Power schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.
– Es tut mir leid, sagte sie, dass ich nichts im Haus habe, was ich Ihnen anbieten kann. Aber wenn Sie eine Minute warten, schicke ich zu Fogarty’s um die Ecke.
Mr Power stand auf.
– Wir haben darauf gewartet, dass er mit dem Geld heimkommt. Er scheint nie daran zu denken, dass er ein Zuhause hat.
– Na, Mrs Kernan, sagte Mr Power, wir wollen dafür sorgen, dass er ein neues Kapitel anfängt. Ich werde mit Martin reden. Das ist der Richtige. Wir kommen mal abends vorbei und besprechen alles.
Sie brachte ihn zur Tür. Der Kutscher stapfte auf dem Gehweg auf und ab und schwang die Arme, um sich zu wärmen.
– Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie ihn nach Hause gebracht haben, sagte sie.
– Nicht der Rede wert, sagte Mr Power.
Er stieg in den Wagen. Im Wegfahren lüftete er fröhlich seinen Hut.
– Wir werden einen neuen Menschen aus ihm machen, sagte er. Gute Nacht, Mrs Kernan.
*
Mrs Kernans verwunderter Blick folgte dem Wagen, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann wandte sie sich ab, ging ins Haus und leerte die Taschen ihres Mannes.
Sie war eine fleißige, praktisch denkende Frau mittleren Alters. Erst vor Kurzem hatte sie ihre Silberhochzeit gefeiert und war ihrem Mann wieder nahegekommen, indem sie mit ihm zur musikalischen Begleitung von Mr Power Walzer tanzte. Als er noch um sie warb, fand sie Mr Kernan nicht unstattlich, und auch jetzt eilte sie noch jedes Mal zum Kirchenportal, wenn eine Hochzeit angekündigt war, und erinnerte sich beim Anblick des Brautpaares mit lebhafter Freude daran, wie sie aus der Stella-Maris-Kirche in Sandymount trat, auf den Arm eines feschen, wohlgenährten Mannes gestützt, der einen modischen Bratenrock und lavendelfarbene Hosen trug und seinen Zylinder elegant auf dem anderen Arm balancierte. Nach drei Wochen war ihr das Leben einer Ehefrau lästig geworden, und später, als sie anfing, es unerträglich zu finden, wurde sie Mutter. Die Mutterrolle bereitete ihr keine unüberwindlichen Schwierigkeiten, und fünfundzwanzig Jahre lang hatte sie ihrem
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