Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dubliner (German Edition)

Dubliner (German Edition)

Titel: Dubliner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Joyce
Vom Netzwerk:
hören als das laute Gelächter und Palaver vor der Haustür, ein paar Akkorde, die auf dem Flügel angeschlagen wurden, und ein paar Töne, die eine männliche Stimme sang.
    Er stand reglos in der Düsternis der großen Diele und versuchte die Melodie zu erhaschen, die die Stimme sang, während er seine Frau ansah. In ihrer Haltung lagen Anmutund Geheimnis, als ob sie ein Symbol für etwas wäre. Er überlegte, wofür eine Frau, die im Halbdunkel auf einer Treppe steht und einer entfernten Musik lauscht, wohl ein Symbol sein könnte. Wenn er ein Maler wäre, würde er sie in dieser Haltung malen. Ihr blauer Filzhut würde die Bronze ihres Haares vor dem dunklen Hintergrund hervorheben, und die dunklen Bahnen ihres Rocks würden die hellen betonen. »Ferne Musik« würde er das Bild nennen, wenn er ein Maler wäre.
    Die Haustür wurde geschlossen; und Tante Kate, Tante Julia und Mary Jane kamen noch immer lachend durch die große Diele.
    – Also, ist Freddy nicht schrecklich?, sagte Mary Jane. Er ist einfach schrecklich.
    Gabriel sagte nichts und deutete nur die Treppe hinauf, dorthin, wo seine Frau stand. Jetzt, da die Haustür geschlossen war, konnte man die Stimme und das Klavier deutlicher hören. Mit einer Handbewegung bat Gabriel um Ruhe. Das Lied schien der alten irischen Harmonik zu folgen, und der Sänger war sich sowohl der Worte als auch seiner Stimme anscheinend nicht sicher. Die Stimme, die wegen ihrer Entfernung und der Heiserkeit des Sängers klagend wirkte, verlieh der Melodie des Liedes und seinen kummervollen Worten einen schwachen Glanz:
    Ach, der Regen fällt auf meine schweren Locken
    Und der Tau benetzt meine Haut,
    Meine Liebste liegt kalt ... *
    – Oh, rief Mary Jane, das ist ja Bartell D’Arcy, der da singt! Und er wollte den ganzen Abend lang nicht singen. Ich werde ihn dazu bringen, noch ein Lied zu singen, bevor er geht.
    – Ja, tu das, Mary Jane!, sagte Tante Kate.
    Mary Jane eilte an den anderen vorbei zur Treppe, aber noch ehe sie sie erreicht hatte, hörte der Gesang auf und das Klavier wurde jäh zugeklappt.
    – Ach, wie schade!, rief sie. Kommt er herunter, Gretta?
    Gabriel hörte, wie seine Frau das bejahte, und sah sie zu ihnen herunterkommen. Dicht hinter ihr folgten Mr Bartell D’Arcy und Miss O’Callaghan.
    – Oh, Mr D’Arcy, rief Mary Jane, wie gemein von Ihnen, mittendrin aufzuhören, wo wir Ihnen so begeistert zugehört haben!
    – Ich habe ihn den ganzen Abend lang bedrängt, sagte Miss O’Callaghan, und Mrs Conroy auch, aber er behauptete, er habe eine schwere Erkältung und könne nicht singen.
    – Oh, Mr D’Arcy, sagte Tante Kate, da haben Sie uns aber ganz schön angeschwindelt.
    – Hören Sie denn nicht, dass ich krächze wie ein Rabe?, fragte Mr D’Arcy barsch.
    Er ging eilig in die Vorratskammer und zog seinen Mantel an. Die andern wussten nicht, was sie sagen sollten, so betroffen waren sie wegen seiner unhöflichen Worte. Tante Kate runzelte die Stirn und machte den anderen ein Zeichen, das Thema fallen zu lassen. Mr D’Arcy stand mit finsterer Miene da und hüllte seinen Hals sorgfältig ein.
    – Es liegt am Wetter, sagte Tante Julia nach einer Weile.
    – Ja, alle sind erkältet, bestätigte Tante Kate sofort, alle.
    – Es heißt, sagte Mary Jane, wir hätten seit dreißig Jahren nicht mehr so viel Schnee gehabt, und heute Morgen las ich in der Zeitung, dass ganz Irland unter Schnee liegt.
    – Ich mag den Anblick von Schnee, sagte Tante Julia wehmütig.
    – Ich auch, sagte Miss O’Callaghan. Ich finde, Weihnachten ist erst dann richtig Weihnachten, wenn Schnee liegt.
    – Nur der arme Mr D’Arcy mag den Schnee nicht, sagte Tante Kate und lächelte.
    Mr D’Arcy kam aus der Vorratskammer, bis oben hin eingehüllt und zugeknöpft, und erzählte ihnen etwas reumütig, woher er seine Erkältung hatte. Alle gaben ihm gute Ratschläge und sagten, wie bedauerlich es sei, und ermahnten ihn, seinen Hals in der kalten Nachtluft warm zu halten. Gabriel beobachtete seine Frau, die sich nicht an der Unterhaltung beteiligte. Sie stand unmittelbar unter dem staubigen Oberlicht, und der tiefe Bronzeton ihres Haares, das er sie erst vor Kurzem am Kamin sitzend hatte trocknen sehen, schimmerte im Licht der Gasflamme. Ihre Haltung war jetzt dieselbe, und sie schien die Gespräche um sie herum nicht wahrzunehmen. Schließlich wandte sie sich den anderen zu, und Gabriel sah, dass ihre Wangen Farbe bekommen hatten und ihre Augen glänzten. Eine plötzliche Woge des

Weitere Kostenlose Bücher