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Dubliner (German Edition)

Dubliner (German Edition)

Titel: Dubliner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Joyce
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stand jetzt vor einem großen Drehspiegel, während sie die Ösen ihres Mieders löste. Gabriel sah ihr eine Weile zu, dann sagte er:
    – Gretta!
    Sie wandte sich langsam vom Spiegel ab und ging, dem Lichtstrahl folgend, auf ihn zu. Ihr Gesicht wirkte so ernst und erschöpft, dass Gabriel die Worte nicht über die Lippen brachte. Nein, das war noch nicht der Augenblick.
    – Du siehst müde aus, sagte er.
    – Ja, ein wenig, antwortete sie.
    – Du fühlst dich doch nicht unwohl oder schwach?
    – Nein, nur müde, das ist alles.
    Sie ging weiter zum Fenster, blieb dort stehen und sah hinaus. Gabriel wartete wieder, und dann, als fürchte er, dass ihn der Mut verlassen könnte, sagte er unvermittelt:
    – Übrigens, Gretta!
    – Ja?
    – Du kennst doch diesen armen Teufel Malins?, sagte er schnell.
    – Ja. Was ist mit ihm?
    – Tja, armer Teufel. Eigentlich ist er ja ein ganz anständiger Kerl, fuhr Gabriel fort, und seine Stimme klang gekünstelt. Er hat mir den Sovereign zurückgezahlt, den ich ihm geliehen hatte. Ich habe das gar nicht erwartet. Schade, dass er diesem Browne nicht von der Seite gewichen ist, denn im Grunde ist er kein schlechter Mensch.
    Er zitterte jetzt vor Ärger. Warum wirkte sie nur so geistesabwesend? Er wusste nicht, wie er anfangen sollte. War auch sie wegen irgendetwas verärgert? Wenn sie ihn doch nur ansehen würde oder von sich aus zu ihm käme! Sie so zu nehmen, wie sie war, das wäre brutal. Nein, erst musste er ein Feuer in ihren Augen sehen. Er wünschte sich, Herr ihrer seltsamen Stimmung zu sein.
    – Wann hast du ihm denn das Pfund geliehen?, fragte sie nach einer Weile.
    Gabriel musste an sich halten, um nicht brutale Worte über diesen Trunkenbold Malins zu gebrauchen und über dieses Pfund. Er spürte das Verlangen, aus tiefster Seele zu ihr zu schreien, ihren Körper an sich zu pressen, sie sich zu unterwerfen. Aber er sagte nur:
    – Ach, in der Weihnachtszeit, als er diesen kleinen Laden für Weihnachtskarten in der Henry Street aufmachte.
    Er war so erfüllt von einem Fieber der Wut und des Begehrens, dass er nicht hörte, wie sie vom Fenster her näher kam. Einen Augenblick lang stand sie vor ihm und sah ihn sonderbar an. Dann stellte sie sich plötzlich auf die Zehenspitzen, legte ihre Hände leicht auf seine Schultern und küsste ihn.
    – Du bist ein sehr großmütiger Mensch, Gabriel, sagte sie.
    Gabriel bebte vor Entzücken über diesen plötzlichen Kuss und über diese kuriosen Worte. Er legte seine Hände auf ihr Haar und strich es zurück, fast ohne es mit seinen Fingern zu berühren. Das Waschen hatte es seidig und glänzend gemacht. Sein Herz floss über vor Seligkeit. Genau in dem Augenblick, als er es sich gewünscht hatte, war sie von sich aus zu ihm gekommen. Womöglich hatte sie das Gleiche gedacht wie er. Womöglich hatte sie das stürmische Begehren gespürt, das in ihm war, und war nun in der Stimmung nachzugeben. Jetzt, da sie ihm so bereitwillig zugefallen war, fragte er sich, wie er nur so verzagt sein konnte.
    Er stand da und hielt ihr Gesicht in seinen Händen. Dann legte er einen Arm schnell um ihren Körper, zog sie an sich und sagte leise:
    – Gretta, Liebste, woran denkst du?
    Sie antwortete nicht und gab auch seinem Arm nicht vollkommen nach. Er sagte noch einmal leise:
    – Sag mir, was es ist, Gretta. Ich glaube, ich ahne, was es ist. Ahne ich es?
    Sie antwortete nicht gleich. Dann brach sie in Tränen aus und sagte:
    – Ach, ich denke an dieses Lied, Das Mädchen von Aughrim.
    Sie machte sich von ihm los und lief zum Bett, warf sich darauf und verbarg ihr Gesicht. Einen Augenblick lang stand Gabriel starr vor Überraschung, und dann folgte er ihr. Als er an dem Standspiegel vorbeikam, sah er sich darin in ganzer Größe: die breite, gewölbte Hemdbrust; das Gesicht, über dessen Ausdruck er sich jedes Mal wunderte, wenn er es im Spiegel sah; und die funkelnden, goldgeränderten Brillengläser. Ein paar Schritte von ihr entfernt blieb er stehen und fragte:
    – Was ist mit diesem Lied? Warum bringt es dich zum Weinen?
    Sie hob den Kopf von ihren Armen und wischte sich die Augen mit dem Handrücken wie ein Kind. Seine Stimme klang freundlicher, als er es beabsichtigt hatte.
    – Warum, Gretta?, fragte er.
    – Ich musste an jemanden denken, der dieses Lied vor langer Zeit gesungen hat.
    – Und wer war dieser Jemand vor langer Zeit?, fragte Gabriel lächelnd.
    – Es war jemand, den ich in Galway kannte, als ich noch bei meiner Großmutter

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