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Dubliner (German Edition)

Dubliner (German Edition)

Titel: Dubliner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Joyce
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hoffentlich noch lange pflegen werden. Eines jedenfalls weiß ich gewiss. Solange dieses eine Dach die schon erwähnten liebenswerten Damen schützt – und ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass es das noch viele, viele Jahre lang tun möge –, so lange wird diese Tradition wahrer warmherziger, kultivierter irischer Gastfreundschaft, die wir von unseren Väternererbt haben und die wir unsererseits an unsere Nachkommen weitergeben müssen, in unserer Mitte lebendig sein.
    Freundliches Beifallsgemurmel erhob sich rund um den Tisch. Es schoss Gabriel durch den Kopf, dass Miss Ivors nicht anwesend war und dass sie unhöflicherweise gegangen war; und selbstbewusst sagte er:
    – Meine Damen und Herren.
    – Unter uns wächst eine neue Generation heran, eine Generation, die von neuen Ideen und neuen Prinzipien geleitet ist. Sie setzt sich mit Ernst und Begeisterung für diese neuen Ideen ein, und wenn ihre Begeisterung mitunter auch fehlgeleitet ist, so ist diese doch, wie ich glaube, im Allgemeinen echt. Aber wir leben in einem skeptischen und, wenn ich das so sagen darf, von Zweifeln gequälten Zeitalter: Und manchmal befürchte ich, dass dieser neuen Generation, intellektuell und überintellektuell wie sie ist, Eigenschaften wie Menschlichkeit, Gastfreundschaft und gütiger Humor fehlen werden, die Teil einer früheren Zeit waren. Ich muss gestehen, dass es mir, als ich heute Abend die Namen all dieser großen Sänger der Vergangenheit hörte, so vorkam, als lebten wir jetzt in einem Zeitalter enger Horizonte. Jene Zeiten, das darf man ohne Übertreibung sagen, hatten einen weiten Horizont. Und wenn sie auch unwiderbringlich dahin sind, so wollen wir doch zumindest hoffen, dass wir bei Anlässen wie diesem noch immer voll Stolz und Zuneigung von ihnen sprechen, dass wir in unseren Herzen die Erinnerung an all die Großen bewahren, die längst tot und begraben sind, deren Ruhm aber die Welt nicht bereit ist, sterben zu lassen.
    – Hört, hört!, sagte Mr Browne laut.
    – Dennoch, fuhr Gabriel fort und wechselte in eine sanftere Tonlage, bei Zusammenkünften wie dieser gehen uns auch immer wieder schwermütige Gedanken durch den Sinn – Gedanken an Vergangenes, an unsere Jugend, an Veränderungen,an die Gesichter derer, die heute Abend nicht unter uns sind und die wir vermissen. Unser Lebensweg ist übersät mit solchen schmerzlichen Gedanken, aber wenn wir ihnen ständig nachhängen wollten, hätten wir nicht die Kraft, mutig unser Werk unter den Lebendigen zu verrichten. Wir alle haben lebendige Verpflichtungen und lebendige Bindungen, die von uns fordern, und zu Recht fordern, dass wir ihnen unsere ganze Kraft widmen.
    – Darum will ich mich nicht länger bei Vergangenem aufhalten. Ich möchte nicht, dass sich heute Abend bei uns ein freudlos moralisierender Ton einschleicht. Wir sind hier zusammengekommen, um für einen kurzen Augenblick die Geschäftigkeit und Hektik unseres Alltags hinter uns zu lassen. Wir sind hier als Freunde im Geiste eines wohlwollenden Miteinanders, auch bis zu einem gewissen Grad als Kollegen im Geiste von wahrer camaraderie , und als Gäste der – wie soll ich sie nennen? – der drei Grazien der Musikwelt von Dublin.
    Bei dieser witzigen Bemerkung brach die Tafelrunde in Beifall und Gelächter aus. Tante Julia bat jeden einzelnen ihrer Nachbarn, zu wiederholen, was Gabriel gesagt habe, aber vergeblich.
    – Er hat gesagt, wir seien die drei Grazien, Tante Julia, sagte Mary Jane.
    Tante Julia verstand nicht, blickte aber lächelnd zu Gabriel auf, der nun diesen Gedanken fortspann:
    – Meine Damen und Herren.
    – Ich will nicht versuchen, heute Abend die Rolle zu übernehmen, die Paris bei anderer Gelegenheit gespielt hat. Ich will gar nicht erst versuchen, zwischen den dreien zu wählen. Das wäre eine undankbare Aufgabe und eine, die meine bescheidenen Kräfte überstiege. Denn wenn ich sie mir eine nach der anderen ansehe, sei es unsere oberste Gastgeberin selbst, die sich durch ihr gutes Herz – ja, allzugutes Herz auszeichnet, wie alle wissen, die sie kennen; oder ihre Schwester, der die ewige Jugend vergönnt zu sein scheint und deren Gesang für uns alle heute Abend eine Überraschung und eine Offenbarung gewesen sein muss; und wenn ich mir schließlich unsere jüngste Gastgeberin ansehe, begabt, heiter, fleißig und die beste aller Nichten, dann – ich gestehe es gerne, meine Damen und Herren – wüsste ich einfach nicht, welcher ich den Preis zusprechen sollte.
    Gabriel

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