Dubliner (German Edition)
ihm lassen, und da habe ich ihm einen Brief geschrieben und ihm gesagt, dass ich nach Dublin gehen würde, aber dass ich im Sommer wieder zurückkäme, und ich hoffte, dass es ihm dann besser ginge.
Sie wartete einen Augenblick, bis ihre Stimme wieder ruhiger war, und fuhr dann fort:
– Dann, am Abend vor meiner Abreise, war ich im Haus meiner Großmutter in Nuns’ Island und packte gerade meine Sachen, da hörte ich, wie Steinchen gegen das Fenster geworfen wurden. Die Scheibe war so nass, dass ich nichts sehen konnte, also bin ich so, wie ich war, nach unten gerannt und durch die Hintertür in den Garten geschlüpft, und da stand der arme Kerl hinten im Garten und zitterte.
– Und hast du ihm nicht gesagt, er solle nach Hause gehen?, fragte Gabriel.
– Ich habe ihn angefleht, auf der Stelle nach Hause zu gehen, und ihm gesagt, dass er sich im Regen den Tod holen würde. Aber er sagte, er wolle nicht mehr leben. Ich sehe seine Augen noch ganz, ganz deutlich vor mir! Er stand am Ende der Mauer, wo ein Baum war.
– Und ist er nach Hause gegangen?, fragte Gabriel.
– Ja, er ging nach Hause. Und als ich gerade eine Woche in der Nonnenschule war, ist er gestorben, und er wurde in Oughterard beerdigt, wo seine Familie herkam. Ach, der Tag, an dem ich das hörte, dass er tot war!
Ihr Schluchzen erstickte ihre Stimme, und überwältigt von Gefühl warf sie sich auf das Bett, das Gesicht nach unten, und schluchzte in die Decke. Einen Augenblick lang hielt Gabriel ihre Hand noch unentschlossen, und dann, um sie nicht in ihrem Kummer zu stören, ließ er sie behutsam los und ging leise ans Fenster.
Sie schlief fest.
Auf einen Ellbogen gestützt, betrachtete Gabriel kurze Zeit ihr verworrenes Haar und den leicht geöffneten Mund und lauschte ihren tiefen Atemzügen. Es hatte also eine Romanze in ihrem Leben gegeben: Ein Mann war um ihretwillen gestorben. Es schmerzte ihn jetzt kaumnoch, wenn er daran dachte, wie unbedeutend die Rolle war, die er, ihr Ehemann, in ihrem Leben gespielt hatte. Er betrachtete sie, während sie schlief, als hätten er und sie niemals als Mann und Frau zusammengelebt. Sein suchender Blick ruhte lange auf ihrem Gesicht und ihrem Haar: Und bei der Vorstellung, wie sie wohl damals gewesen sein mochte, in jener Zeit ihrer ersten Jungmädchen-Blüte, erfüllte seine Seele ein sonderbar freundliches Mitleid mit ihr. Er mochte nicht einmal sich selbst eingestehen, dass ihr Gesicht nicht mehr schön war, aber er wusste, dass es nicht mehr das Gesicht war, für das Michael Furey dem Tod getrotzt hatte.
Möglicherweise hatte sie ihm nicht die ganze Geschichte erzählt. Sein Blick wanderte zu dem Stuhl, auf den sie einige ihrer Kleider geworfen hatte. Das Band eines Unterrocks baumelte auf den Boden. Ein Stiefel stand aufrecht, nur der weiche Schaft war umgefallen; sein Kamerad lag auf der Seite. Er dachte an das Ungestüm seiner Gefühle vor einer Stunde. Was war dem vorausgegangen? Das Abendessen bei seinen Tanten, seine eigene törichte Rede, Wein und Tanz, die Scherze beim Abschied in der großen Diele, die Freude über den Spaziergang am Flussufer im Schnee. Arme Tante Julia! Auch sie würde bald ein Schatten sein wie der Schatten von Patrick Morkan und seinem Pferd. Einen Augenlick lang hatte er wahrgenommen, wie verhärmt ihr Gesicht war, während sie Geschmückt für die Hochzeit sang. Vielleicht würde er bald in demselben Salon sitzen, schwarz gekleidet, seinen Zylinder auf den Knien. Die Rouleaus wären herabgelassen, und Tante Kate würde weinend neben ihm sitzen, sich die Nase schnäuzen und ihm erzählen, wie Tante Julia gestorben war. Er würde nach Worten suchen, die sie trösten könnten, und dabei nur lahme, unnütze Worte finden. Ja, ja: Das würde schon bald geschehen.
Die Luft im Zimmer ließ ihn um die Schultern frösteln. Er streckte sich behutsam unter die Laken und legte sich neben seine Frau. Einer nach dem anderen wurden sie zu Schatten. Besser mutig in diese andere Welt hinüberzugehen, in der ganzen Glorie einer Leidenschaft, als alt geworden zu verblühen und verwelken. Er musste daran denken, wie die, die neben ihm lag, das Bild der Augen ihres Liebhabers, als er ihr sagte, dass er nicht länger leben wolle, so viele Jahre lang in ihrem Herzen verschlossen hatte.
Großmütige Tränen füllten Gabriels Augen. Er selbst hatte nie so für eine Frau gefühlt, aber er wusste, dass ein solches Gefühl Liebe sein musste. Die Tränen verdichteten sich in seinen Augen, und
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