Dubliner (German Edition)
im Halbdunkel glaubte er die Gestalt eines jungen Mannes zu sehen, der unter einem regennassen Baum stand. Andere Gestalten waren nahe. Seine Seele hatte sich der Region genähert, wo die großen Scharen der Toten zu Hause sind. Er war sich ihrer unberechenbaren und unsteten Existenz bewusst, ohne sie fassen zu können. Seine eigene Identität begann in eine graue, ungreifbare Welt zu entschwinden: Die solide Welt selbst, die diese Toten einst erbaut und bewohnt hatten, war dabei, sich aufzulösen und zu schwinden.
Leises Pochen an der Scheibe veranlasste ihn, sich nach dem Fenster umzuwenden. Es hatte wieder zu schneien angefangen. Schläfrig sah er zu, wie die Flocken, silbern und dunkel, schräg gegen das Licht der Laterne fielen. Die Zeit war für ihn gekommen, seine Reise westwärts anzutreten. Ja, die Zeitungen hatten recht: Ganz Irland lag unter Schnee. Er fiel überall auf die dunkle Ebene im Zentrum, auf die baumlosen Berge, fiel sacht auf das Moor von Allen, und weiter westwärts fiel er sacht in die dunklen, aufrührerischen Wellen des Shannon. Er fiel auch auf jeden Teil des einsamen Friedhofs, auf den Hügel, wo Michael Furey begraben lag. Er lag in hohen Wächten auf den schief stehendenKreuzen und Grabsteinen, auf den Spitzen des kleinen Gatters, auf den kahlen Dornenhecken. Seine Seele entglitt allmählich, während er dem Schnee lauschte, der sacht fiel durch das Universum, und er fiel sacht, wie das Nahen ihrer letzten Stunde, auf alle die Lebenden und die Toten.
N ACHWORT
James Joyce wurde am 2. Februar 1882 in Dublin geboren und verbrachte dort die ersten 22 Jahre seines Lebens. 1904 verließ er seine Heimatstadt und kehrte danach nur noch wenige Male zurück. Dennoch ließ Dublin ihn zeitlebens nicht mehr los, und es ist dreien seiner großen Prosawerke – ›Dubliner‹, ›Ulysses‹ und ›Finnegans Wake‹ – in einzigartiger Weise eingeschrieben. Diese Stadt, mit der er aufs Engste vertraut war, ist in seinen Büchern so sehr präsent, dass Joyce in Bezug auf ›Ulysses‹ einem Freund einmal stolz schrieb, wenn Dublin je von der Erdoberfläche verschwinden sollte, könnte man es anhand seiner Beschreibung in diesem Roman wiederaufbauen.
Joyce Elternhaus stand am Brighton Square 41 in Rathgar, einem Stadtteil im gutbürgerlichen Süden von Dublin. Sein Vater, John Stanislaus Joyce, hatte zu dieser Zeit die recht gut bezahlte und mit wenig Arbeit verbundene Stellung eines städtischen Steuereinnehmers inne. Er war ein lebensfroher, geselliger Mann, ein guter Sänger und Geschichtenerzähler, spendierfreudig und trinkfest. Die Mutter, Mary Jane, geborene Murray, Tochter eines Dubliner Weinhändlers, war zehn Jahre jünger als ihr Mann. Sie war eine hübsche, sanfte Frau, die ihrem Erstgeborenen James sehr zugetan und ihm in späteren Jahren geradezu blind ergeben war. Je größer die Familie wurde – auf James folgten in kurzen Abständen elf weitere Kinder, wovon zwei früh an Typhus verstarben –, desto schwieriger wurde die finanzielleSituation. John Joyce verstand es nicht zu wirtschaften, und Geldsorgen und Alkoholkonsum verstärkten einander im Laufe der Jahre. Bald war die Familie gezwungen, in ein günstigeres Haus umzuziehen, und diesem Umzug folgten in den Jahren, in denen James bei seiner Familie lebte, noch zwölf oder dreizehn weitere, in immer ärmere Viertel der Stadt. Die erste Schule, auf die er im Alter von sechs Jahren geschickt wurde, war Clongowes Wood College, eine sehr angesehene, von Jesuiten geleitete Internatsschule in Clane, etwa 30 Kilometer außerhalb von Dublin. Als der Vater das Schulgeld nicht mehr bezahlen konnte, musste der Junge das College 1892 verlassen. Einige Monate lang ging er dann auf die von ärmeren Kindern besuchte Schule der Christian Brothers in der North Richmond Street, in der zu dieser Zeit auch die Familie Joyce wohnte (sie wird in ›Arabia‹ und ›Efeu-Tag im Sitzungszimmer‹ erwähnt), bevor er in das ebenfallls von Jesuiten betreute Belvedere College aufgenommen wurde, wo man ihm das Schulgeld erließ. Er war ein begabter Schüler, der für seine hervorragenden Leistungen, besonders für Aufsätze, zahlreiche Auszeichnungen und Geldpreise erhielt. Die Erziehung durch die Jesuiten prägte ihn tief, und religiöse Motive tauchen überall in seinem Werk auf. Gleichwohl entfernte er sich zunehmend von seinem katholischen Glauben, und er sah in der dominanten Stellung der Kirche und ihrer Priester eine wesentliche Ursache für die
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