Dubliner (German Edition)
geistige Stagnation im Irland seiner Zeit. Sein autobiographischer Roman ›A Portrait of the Artist as a Young Man‹ (1916) zeichnet diese frühe Entwicklung und seine Rebellion gegen die Autorität des Klerus nach, aber auch in nahezu allen Erzählungen der ›Dubliner‹ lässt sich die kritisch-ironische Distanz erkennen, die Joyce zur Kirche einnahm, auch wenn er lebenslang insbesondere Thomas von Aquin schätzte.
Nach dem Schulabschluss schrieb sich Joyce 1898 amUniversity College Dublin ein, auch dies eine Gründung der Jesuiten, um Englisch, Französisch und Italienisch zu studieren. Er las in dieser Zeit die großen Werke der europäischen Literatur und Philosophie, deren Spuren sich überall in seinem Werk verfolgen lassen, insbesondere im ›Ulysses‹ und in ›Finnegans Wake‹. Für die ›Dubliner‹ lassen sich als Vorbilder namentlich die Naturalisten Gerhart Hauptmann und Henrik Ibsen und Gustave Flaubert hervorheben. Wie Mr Duffy in ›Ein trauriger Fall‹ übersetzte auch der junge Joyce Hauptmanns Drama ›Michael Kramer‹, und von den sozialkritischen Dramen Ibsens war er so beeindruckt, dass er dem Meister einen bewundernden Brief schrieb und ihm als 18-Jähriger einen Aufsatz widmete, der im April 1900 in der Zeitschrift ›The Fortnightly Review‹ abgedruckt wurde. Flauberts distanzierte Erzähltechnik, mit der er das Bewusstsein seiner Figuren jeweils in einem Stil erforscht, der ihnen angemessen ist, gehört auch zu den hervorstechenden Merkmalen der ›Dubliner‹.
Nach Abschluss des Studiums brach Joyce 1903 nach Paris auf, um Medizin zu studieren. Seine Umtriebigkeit in Künstlerkreisen lässt die Ernsthaftigkeit dieses Vorhabens bezweifeln, Geldmangel und die schwere Erkrankung seiner Mutter brachten ihn schon bald nach Dublin zurück. Dort schlug ihm ein Bekannter, George Russell, vor, für die Zeitschrift ›Irish Homestead‹, deren Literaturredakteur er war, eine Geschichte zu schreiben. Die Leser von ›Irish Homestead‹ lebten zumeist als Farmer und Gewerbetreibende auf dem Land, und so betonte Russell, es solle »eine einfache Geschichte« sein. Das Geld sei leicht verdient, versicherte er Joyce, »wenn du flüssig schreibst und es dir nichts ausmacht, dich ausnahmsweise einmal dem Verständnis und Geschmack der Allgemeinheit anzupassen«. Die Geschichte, die Joyce daraufhin einreichte, war ›DieSchwestern‹, die im August 1904 veröffentlicht wurde. Es folgten ›Eveline‹ und ›Nach dem Rennen‹, die im September und Dezember desselben Jahres erschienen. Sich dem Geschmack der Allgemeinheit anzupassen, kam für den jungen Joyce, der strenge Maßstäbe an seine Kunst anlegte, freilich nicht in Frage, und bald hatten sich so viele Leser bei Russell beschwert, dass dieser auf eine weitere Zusammenarbeit verzichtete. Joyce wusste bereits bei Erscheinen von ›Die Schwestern‹, dass diese Geschichte Teil einer größeren Einheit werden sollte. Einem Studienfreund kündigte er an, er arbeite an einer Serie von zehn Geschichten, die er ›Dubliner‹ nennen werde. Darin wolle er »das Wesen jener Hemiplegie oder Lähmung offenlegen, die viele für eine Stadt halten«. Das ehrgeizige Ziel, seinen Landsleuten einen Spiegel vorzuhalten, stand für Joyce also schon früh fest, ebenso das Konzept einer thematisch verknüpften Reihe von Erzählungen.
Im Oktober 1904 kehrte Joyce der Stadt, deren Bewohner er kritisch darzustellen beabsichtigte, den Rücken. Er befand sich dabei in Begleitung von Nora Barnacle, einer jungen Frau aus Galway, die in einem Dubliner Hotel als Zimmermädchen arbeitete und die er nur wenige Wochen zuvor kennengelernt hatte. Ein gegensätzlicheres Paar kann man sich kaum vorstellen, aber die beiden, die erst 1931, als sie schon zwei erwachsene Kinder hatten, heirateten, blieben einander zeitlebens eng verbunden. In ihrer klugen, ruhigen Art hatte Nora einen ausgleichenden Einfluss auf den zu großen Stimmungsumschwüngen neigenden Joyce, und sie ermöglichte es ihm, trotz vieler Widrigkeiten seine künstlerischen Pläne zu verwirklichen. Nora war für ihn der Inbegriff des Weiblichen, und er hat ihr mehrfach ein literarisches Denkmal gesetzt, als Gretta in ›Die Toten‹, als Molly im ›Ulysses‹ und als Anna Livia Plurabelle in ›Finnegans Wake‹.
Das Paar ließ sich nach kurzem Zwischenaufenthalt in Paris an der Adriaküste nieder, zunächst in Pula und dann in Triest, wo er eine Anstellung als Englischlehrer an einer Berlitz School fand. Die
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