Dubliner (German Edition)
beiden lebten in äußerst beengten Verhältnissen und litten unter ständiger Geldnot. Gleichwohl schrieb Joyce, der zutiefst von seiner künstlerischen Berufung überzeugt war, weitere Geschichten. Im Herbst 1905 hatte er ›Die Schwestern‹, ›Eveline‹ und ›Nach dem Rennen‹ zum Teil erheblich überarbeitet und insgesamt zwölf Kurzgeschichten fertiggestellt, die er an den Londoner Verleger Grant Richards schickte. Dieser sagte im Februar 1906 zu, die ›Dubliner‹ zu veröffentlichen, und kurz darauf schickte ihm Joyce noch zwei weitere Geschichten, ›Zwei feine Herren‹ und ›Eine kleine Wolke‹. 1907 entstand dann während eines Aufenthalts in Rom die lange Erzählung ›Die Toten‹, die den Abschluss des Zyklus bilden sollte. Inzwischen waren dem Verleger und seinem Drucker aber Bedenken gekommen, da sie rechtliche Konsequenzen befürchteten, wenn sie Dinge veröffentlichten, die Anstoß erregen könnten. Viktorianische Prüderie und Sittenstrenge spielten dabei eine wichtige Rolle. Zum Beispiel erschien es nicht annehmbar zu erwähnen, dass eine junge Frau beim Sitzen mehrmals die Stellung ihrer Beine änderte oder dass ein Mann »für zwei Haushalte aufkommen muss« (S. 110), sich also von seiner ersten Familie getrennt hat. Auch die scheinbar kunstlose, mitunter derbe Alltagssprache stieß auf Missbilligung, vor allem das mehrmals auftauchende Wort »bloody«, das zwar auch heute noch als Wort der Vulgärsprache in manchen Situationen gemieden wird, aber kaum mehr einen Skandal hervorrufen dürfte. Grant Richards verlangte von Joyce Änderungen und Streichungen, und schließlich wollte er ganze Geschichten aus dem Buch getilgt wissen. Joyce setzte sich vehement zur Wehr und verteidigte sein literarisches Urteilsvermögen, stimmteaber am Ende doch einigen Änderungen zu. Damit gab sich Grant Richards jedoch nicht zufrieden, und so lehnte er es am Ende ab, die ›Dubliner‹ herauszubringen. Auch mehrere andere Verlage gaben Joyce das Manuskript zurück, bis es 1909 zu einem Vertragsabschluss mit dem Dubliner Verlag Maunsel & Co. kam. Das Buch wurde gedruckt, aber dann erhob auch dieser Verlag Einwände. Diesmal richteten sie sich gegen die Erwähnung der Namen von lebenden Personen und von Geschäften und Kneipen, die es in Dublin tatsächlich gab, aus Furcht vor Klagen wegen Beleidigung und übler Nachrede. Besonders gravierend erschien in diesem Zusammenhang die Anspielung in ›Efeu-Tag im Sitzungszimmer‹ auf » König Edwards Lebenswandel« (S. 159). Joyce erklärte sich auch hier nach langem Ringen zu einigen Veränderungen am Text bereit und willigte sogar ein, ›Eine Begegnung‹ ganz aus der Sammlung herauszunehmen. Trotz dieser Zugeständnisse trat auch Maunsel & Co. 1912 vom Vertrag zurück, und die fertigen Druckbogen wurden vernichtet. In der Folgezeit musste sich Joyce noch mehrmals mit Ablehnungen abfinden, bis sich Grant Richards 1914 besann und die ›Dubliner‹ am 15. Juni endlich erscheinen konnten, acht Jahre nach Abschluss des ersten Vertrages und zehn Jahre nach Entstehung der ersten Geschichten. Joyce war inzwischen zweiunddreißig. Der Band wurde von der Kritik, soweit sie davon Kenntnis nahm, freundlich aufgenommen, doch finanziell brachte er Joyce zunächst nichts ein. Der Vertrag sah vor, dass dem Autor ab dem 500. Exemplar ein Honorar gezahlt werden sollte, aber 1914 wurden nur 499 Exemplare verkauft, 1915 ging die Zahl auf einige Dutzend zurück, und im Jahr danach wurden noch weniger verkauft.
Inzwischen hatte Joyce ein langes autobiographisches Werk mit dem Titel ›Stephen Hero‹ abgeschlosssen, das dann in vollständig umgearbeiteter Form als ›A Portrait ofthe Artist as a Young Man‹ erschien, zunächst in Fortsetzungen und 1916 als Buch. Dieser erste Roman brachte Joyce wachsende Anerkennung, und zugleich fanden sich Förderer, die ihn und seine Familie großzügig unterstützten. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges zog er von Triest, das damals zur Donaumonarchie gehörte, ins neutrale Zürich und nach Kriegsende nach Paris. In den Jahren 1914 bis 1921 entstand der vielschichtige epische Roman ›Ulysses‹, der 1922 veröffentlicht und schon bald als epochemachendes Werk wahrgenommen wurde. Die folgenden siebzehn Jahre widmete Joyce seinem letzten und ehrgeizigsten Werk, dem enzyklopädischen, mit Form und Sprache experimentierenden ›Finnegans Wake‹ (1939). Als Frankreich 1940 von deutschen Truppen besetzt wurde, kehrte Joyce mit seiner Familie
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