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Dubliner (German Edition)

Dubliner (German Edition)

Titel: Dubliner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Joyce
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auffindbare Korkenzieher, Goldmünzen, Namen abgelegener Straßen, gälische Sprachbrocken, Zeilen aus Opernarien, Titel von Büchern aus der Hinterlassenschaft eines verstorbenen Priesters. Und so, wie viele der Geschichten ohne Vorbereitung mitten im Geschehen einsetzen, so brechen sie plötzlich ab; nichts scheint so recht zusammenzuhängen, und der Sinn des Ganzen bleibt zunächst dunkel. Der Leser befindet sich in einer Lage, die der des kindlichen Erzählers in ›Die Schwestern‹, die den Prolog des Erzählzyklus bildet, recht ähnlich ist. Der Junge versucht dort, sich aus Gesprächsfetzen und unverbundenen Einzelheiten eine verständliche Geschichte zusammenzureimen, und so geht es auch dem Leser. Jedenfalls erweist sich das Wort »Paralyse«, das dem Jungen im Kopf herumgeht, auch für das Verständnis der nachfolgenden Geschichten als relevant. Ein zweites Wort, das der Junge sonderbar findet und auf das damit auch die Aufmerksamkeit des Lesers gelenkt wird, ist »Gnomon«. Der Junge hat es aus einem Schulbuch, in dem die euklidische Geometrie behandelt wird, und dort bezeichnet Gnomon ein unvollständiges oder Ergänzungsparallelogramm. Sieht man einmal von der spezifischen Bedeutung ab und betrachtet diese geometrische Figur in einem übertragenen, erweiterten Sinn, so begreift man, dass auch in den ›Dubliner‹-Geschichten vieles ausgespart oder nur angedeutet wird und vom Leser »ergänzt« werden muss. Anders als realistische Romanciers des 19. Jahrhunderts lehnt Joyce die Rolle des allwissenden Erzählers ab, der eindeutige Sinnzusammenhänge stiftet, Werturteile abgibt und den Anspruch erhebt, die Welt so, wie sie »wirklich ist«, abzubilden und verstehbar zu machen. Schon in den ›Dubliner‹ präsentiert sich Joyce als Autor einer Moderne, die solche Gewissheiten nicht mehrkennt. Er überlässt es dem Leser, mithilfe der Indizien, der Anspielungen, die er »mit skrupulöser Genauigkeit« anbietet, Zusammenhänge zu entdecken. Er schafft Zugang zu den Gedanken seiner Figuren, enthält sich aber direkter Kommentare, bleibt ironisch auf Distanz und verweigert eindeutige, abschließende Erklärungen. Auch darin sind ›Die Schwestern‹ mustergültig für die nachfolgenden Erzählungen: Was es genau mit dem Tod des Priesters auf sich hat, wie dessen Beziehung zu dem Jungen war, was sich hinter den Andeutungen verbirgt, die die Schwester des Verstorbenen macht, warum die Schwestern überhaupt im Titel der Geschichte erwähnt werden – das alles kann man versuchsweise auf die eine oder andere Weise erklären, und der Leser sollte sich nicht scheuen, eigene Wege des Verstehens zu suchen. Man muss sich dabei aber im Klaren darüber sein, dass kein Erklärungsversuch für sich beanspruchen kann, der einzig Mögliche zu sein. Für den jungen Erzähler ebenso wie für den Leser bleiben am Ende Lücken, die sich nicht dauerhaft schließen lassen. Darin liegt letztlich der Reiz der ›Dubliner‹: dass die scheinbar so einfachen, realitätsnahen Geschichten den Leser nicht zur Ruhe kommen lassen, sondern ihn stets aufs Neue herausfordern, indem sie Fragen aufwerfen, die dann zu weiteren führen.
    Diese nicht abschließbare Kette ist das Ergebnis der erzählerischen Komplexität und Vielschichtigkeit der Geschichten. »Paralyse« mag eines der zentralen Motive sein, aber es ist verwoben in einem weit gespannten Netzwerk: Was bedeutet es, um 1900 in Irland zu leben, in einem Land, das seine Selbstständigkeit verloren hat und von London aus regiert wird, wirtschaftlich von England abhängig ist, noch immer an den Folgen der Hungersnot in den 1840er-Jahren leidet und seine alte Sprache und Kultur zu verlieren droht? Wie sind die Geschlechterrollen definiert? WelchenPlatz haben Familie und Religion im Leben dieser Menschen? Warum können die geschilderten Menschen sich fast nur in Träume, in den Wahnsinn oder in den Tod flüchten, statt sich zu befreien, wegzugehen? Welche Namen tragen die Figuren, welche Rolle spielen die Gedichte oder die Lieder?
    In bewundernswerter Weise ist es Joyce gelungen, eine Erzählweise zu entwickeln, in der sich wie in einem Gewebe in den Geschichten vielfältige thematische Fäden verknüpfen. An diesen Berührungspunkten stellen sich Dinge, die bis dahin trivial erschienen, in neuer Weise dar. Joyce selbst hat für solche Augenblicke der Konvergenz den Begriff »Epiphanie« verwendet und erklärt, dass diese den Kern seiner Erzählungen bildet. Der Sinn der Geschichten

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