Duddits - Dreamcatcher
nichts, was du nicht halten kannst, du Spacko«, sagt Jonesy.
»Die hinreißende Gariella«, sagt Henry ganz feierlich.
Der Biber kommt angedampft, schnaufend, aber mit Zahnstocher im Mund. Er nimmt Jonesys Doktorhut, schaut hinein und sagt: »Da ist ein Wichsfleck drin. Kalte Bauern hab ich jede Menge auf meinem Laken; ich weiß, wie die aussehen.« Er holt tief Luft und grölt den davonziehenden Schulabgängern in ihren Roben in Derry-Rot zu: »Gary Jones wichst in seinen Doktorhut! He, hört mal alle her! Gary Jones wichst …«
Jonesy packt ihn und zerrt ihn zu Boden, und die beiden rollen in einem Knäuel aus rotem Nylon hin und her. Die Doktorhüte fliegen herum, und Henry hebt sie auf, damit sie nicht verknicken.
»Geh runter von mir!«, schreit Biber. »Du drückst mich platt! Heilige Filzlaus! Verdammt noch mal …«
»Eine Bekannte von Duddits«, sagt Pete. Er hat das Interesse an diesem Herumgealber verloren und ist sowieso nicht in der Hochstimmung wie die anderen (Pete ist vielleicht der Einzige von ihnen, der ahnt, dass ihnen große Veränderungen bevorstehen). Er schaut wieder auf den Anschlag. »Wir kennen sie auch. Das war die, die immer vor der Behindi-Akademie stand. ›Hi, Duddie‹, hat sie immer gesagt.« Hi, Duddie, sagt Pete mit hoher, mädchenhafter Stimme und in einem Ton, der eher süß als verächtlich wirkt. Und obwohl Pete kein guter Stimmenimitator ist, weiß Henry sofort, wen er meint. Er erinnert sich an das Mädchen, das volles blondes Haar und große braune Augen und verschrammte Knie und eine weiße Plastikhandtasche hatte, in der sie immer ihren Lunch und ihre BarbieKen mit sich herumtrug. So nannte sie die beiden: BarbieKen, als wären sie eins.
Jonesy und Biber wissen auch, wessen Stimme Pete da imitiert, und auch das weiß Henry. Zwischen ihnen besteht dieses geistige Band; das ist jetzt schon seit Jahren so. Zwischen ihnen und Duddits. Jonesy und Biber können sich genauso wenig wie Henry an den Namen des kleinen blonden Mädchens erinnern – nur dass sich ihr Nachname unglaublich klobig anhörte. Und dass sie in den Dudster verknallt war und deshalb immer vor der Behindi-Akademie auf ihn gewartet hat.
Die drei stellen sich in ihren Roben um Pete herum und gucken auf das Anschlagbrett.
Wie immer ist es gerammelt voll – Nachrichten über Kuchenbasare und Autowaschdienste, über die Proben zu der Community-Players-Inszenierung des Musicals The Fantastiks, über Sommerseminare in Fenster, dem örtlichen Junior College, und dazu jede Menge handschriftliche Kleinanzeigen der Schülerinnen und Schüler: Kaufgesuche, Angebote, suche nach der Abschlussfeier Mitfahrgelegenheit nach Boston, suche noch Mitbewohner in Providence.
Und ganz oben in der Ecke das Foto eines lächelnden Mädchens mit Unmengen blondem Haar (jetzt eher kraus als voll) und großen, leicht verwirrt blickenden Augen. Sie ist kein kleines Mädchen mehr – es erstaunt Henry immer wieder, wie die Kinder, mit denen er aufgewachsen ist (er selbst eingeschlossen) verschwunden sind –, aber diese dunklen, verwirrt dreinschauenden Augen würde er immer wieder erkennen.
VERMISST, steht in Blockbuchstaben unter dem Foto. Und darunter, in etwas kleinerer Schrift: JOSETTE RINKENHAUER, ZULETZT GESEHEN AUF DEM SOFTBALL-PLATZ IM STRAWFORD PARK AM 7. JUNI 1982. Darunter steht weiterer Text, aber Henry macht sich nicht die Mühe, ihn zu lesen. Vielmehr muss er daran denken, wie eigenartig das in Derry mit vermissten Kindern ist – ganz anders als in anderen Städten. Es ist der achte Juni, und die kleine Rinkenhauer ist also erst seit einem Tag verschwunden, und trotzdem hängt dieser Anschlag schon ganz oben am Schwarzen Brett (oder wurde dorthin verschoben), als wäre es eine Todesmeldung. Und das ist noch nicht alles. Heute Morgen stand nichts in der Zeitung – Henry weiß das, weil er sie gelesen hat. Na ja, überflogen, beim Schlürfen seiner Cornflakes. Vielleicht war es irgendwo hinten im Lokalteil begraben, denkt er und weiß sofort, dass das Schlüsselwort dabei »begraben« ist. Vieles in Derry ist begraben. Man redet beispielsweise nicht über verschwundene Kinder. Im Laufe der Jahre sind viele Kinder verschwunden – diese Jungs wissen das, und sie mussten an dem Tag, an dem sie Duddits Cavell kennengelernt haben, sicherlich daran denken, aber niemand spricht groß darüber. Als wäre der Preis dafür, in einer so netten, ruhigen Stadt zu leben, dass gelegentlich ein Kind verschwindet. Bei diesem
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