Duddits - Dreamcatcher
getan. Hier drin zu sterben, unter dem angestaubten, gleichgültigen Blick dieser Frau, deren Bild da ans Schwarze Brett geheftet war … das wäre nicht fair. Vom Rest der Welt jetzt mal ganz abgesehen: Er, Gary Jones aus Brookline, Massachusetts, ehemals Derry, Maine, letzter Aufenthalt Jefferson Tract, hatte Besseres verdient.
»Bitte, das habe ich nicht verdient!«, rief er zu der schaukelnden Spinnwebgestalt hoch, und da klingelte auf dem zerbröselnden Schreibtisch hinter ihm das Telefon.
Jonesy wirbelte herum und stöhnte bei dem brennenden, überwältigenden Schmerz in seiner Hüfte auf. Das Telefon, mit dem er Henry angerufen hatte, war sein Bürotelefon gewesen, das blaue Trimline. Das dort nun auf der rissigen Schreibtischplatte stand, war schwarz und klobig, hatte eine Wählscheibe statt Tasten und einen Aufkleber mit dem Spruch MÖGE DIE MACHT MIT DIR SEIN drauf. Es war das Telefon, das er in seinem Kinderzimmer gehabt hatte, das ihm seine Eltern zum Geburtstag geschenkt hatten. 949–7784 – die Nummer, auf die er vor all den Jahren die Gebühren für den Anruf bei Duddits hatte buchen lassen.
Er stürzte sich darauf und achtete nicht auf seine Hüfte, inständig hoffend, die Leitung würde sich nicht auflösen oder gekappt werden, ehe er rangehen konnte.
»Hallo? Hallo!« Hin und her schwankend auf dem schwingenden und bebenden Boden. Das ganze Büro hob und senkte sich nun wie ein Schiff bei schwerem Seegang.
Mit Robertas Stimme hatte er nun wirklich überhaupt nicht gerechnet. »Ja, Doktor, Augenblick. Ein Gespräch für Sie.«
Es klickte so laut, dass ihm der Kopf davon wehtat, und dann herrschte Totenstille. Jonesy stöhnte und wollte eben schon auflegen, als es wieder klickte.
»Jonesy?« Es war Henry. Nur schwach und undeutlich, aber eindeutig Henry.
»Wo bist du?«, rief Jonesy. »Herrgott, Henry, das ganze Haus geht in die Brüche! Ich gehe in die Brüche!«
»Ich bin bei Gosselin’s«, sagte Henry. »Aber nicht in Wirklichkeit. Und du bist auch nicht da, wo du bist. Wir sind beide in dem Krankenhaus, in das sie dich gebracht haben, als du überfahren wurdest …« Es knackte in der Leitung, dann brummte es, und dann war Henry wieder da und klang jetzt näher und lauter. Jonesy schöpfte wieder etwas Mut in diesem ganzen Zusammenbruch. »… aber da sind wir in Wirklichkeit auch nicht!«
»Was?«
»Wir sind in dem Traumfänger, Jonesy! Wir sind in dem Traumfänger, und dort waren wir schon immer! Seit 1978! Duddits ist der Traumfänger, aber er liegt im Sterben! Er hält noch etwas durch, aber ich weiß nicht, wie lange noch …« Wieder klickte und brummte es, bitter und elektrisch klingend.
»Henry! Henry! «
»… komm raus!« Jetzt wieder schwach. Henry klang verzweifelt. »Du musst rauskommen, Jonesy! Komm her zu mir! Lauf an dem Traumfänger entlang, und komm her zu mir! Noch ist Zeit! Wir können dieses Schwein noch stoppen! Hörst du? Wir können …«
Es klickte wieder, und dann war die Leitung tot. Das Gehäuse seines Kindertelefons krachte, brach auf und spuckte einen unsinnigen Kabelsalat aus. Die Kabel waren alle rotorangefarben und mit Byrus überzogen.
Jonesy ließ den Hörer los und sah zu dem schaukelnden Traumfänger hoch, diesem flüchtigen Spinnennetz. Ihm fiel ein Satz ein, den sie als Kinder toll gefunden hatten und der von irgendeinem Komiker stammte: Du bist der, wo du bist. Das hatte den gleichen Stellenwert bei ihnen gehabt wie Selbe Scheiße, anderer Tag, ja, hatte vielleicht sogar den ersten Platz belegt, als sie dann älter wurden und sich für kultivierter hielten. Du bist der, wo du bist. Nur stimmte das, nach Henrys Anruf, nicht mehr. Denn wo sie zu sein glaubten, waren sie nicht.
Sie waren in dem Traumfänger.
Er bemerkte, dass der Traumfänger, der da über den Trümmern seines Schreibtischs baumelte, vier Speichen hatte, die von der Mitte ausgingen. Viele Verbindungsfäden wurden von diesen Speichen gehalten, aber die Speichen hielt nur der Mittelpunkt, der Kern, von dem sie ausgingen.
Lauf an dem Traumfänger entlang, und komm her zu mir! Noch ist Zeit!
Jonesy drehte sich um und rannte zur Tür.
10
Mr. Gray war ebenfalls an der Tür – der Tür des Schachthauses. Sie war verschlossen. Wenn er bedachte, was hier mit der Russin passiert war, wunderte ihn das nicht. Die Stalltür schließen, nachdem das Pferd gestohlen wurde – das war Jonesys übliche Redewendung für solche Fälle. Hätte er noch ein Kim gehabt, dann wäre das kein
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