Duell auf offener Straße
anderen entwickelt haben. Wir können viel oder keine Erfahrungen mit Gewalt auf psychischer oder physischer Ebene gesammelt haben und zum Beispiel Ängste vor Aggression oder einen ausgeprägten Machtanspruch daraus ableiten. Vielleicht haben wir das Vertrauen in Menschen verloren oder trauen keinem Hund. Vielleicht haben wir Probleme, wenn Menschen ihren Hunden gegenüber schwach sind oder sich häufig durchsetzen. Vielleicht sind wir aber auch freiheitsliebend oder brauchen viel Kontrolle im Leben. Vielleicht sind wir geltungsbedürftig oder wollen es allen recht machen. Vielleicht haben wir gelernt, immer stark zu sein oder dass alles sehr schnell gehen muss. Auf jeden Fall haben wir unterschiedliche Stärken und Schwächen im Umgang mit Menschen und Hunden, im Aufbau von Beziehungen und in der Erziehung. Jeder Ansatz im Hundetraining sagt etwas über den Hundetrainer selbst aus, über seine persönliche Geschichte und seine Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren. Helfen wollen wir alle. Manche von uns den Hunden, manche den Menschen, manche beiden und manche vielleicht nur sich selbst.
Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass Diskussionen in der Hundeerziehung auf emotionaler und weniger auf fachlicher Ebene geführt werden.
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Und so treffen sie aufeinander, Hundehalter und Hundetrainer. Sie erzählen uns ihre Geschichte. Die Interpretation des Verhaltens von ihnen und ihrem Hund, die Diagnose des Problems und der jeweilige Trainingsvorschlag werden aber nicht von einer neutralen Instanz getroffen, sondern von uns. Unsere Theorien und Methoden, Vorerfahrungen und Einstellungen, Stärken und Schwächen, unser Fachwissen und geistiger Standort sind die Grundlage dafür. Jeder hat seine eigene Wahrheit, und dementsprechend kommt es zu unterschiedlichen Aussagen und Ansätzen, je nachdem, wo man hingeht.
Manche dieser Erziehungsansätze sind wissenschaftlich schnell zu widerlegen, andere sind nur nicht erforscht, doch die meisten sind meinungs- und einstellungsabhängig. Dementsprechend kann man nicht über richtig und falsch urteilen, sondern sollte vielmehr über die individuelle Angemessenheit im Einzelfall diskutieren. Schließlich begeben wir uns in einen sehr intimen Bereich, wenn wir Menschen zu einem Problem mit ihrem Hund beraten. Die Zielgruppe Hundehalter ist bis auf die Tatsache, dass alle einen Hund haben, nicht weiter einzugrenzen. Wir treffen auf mannigfaltige Gefühle, auf Erziehungseinstellungen und -stile, auf unterschiedliche Lebensentwürfe, Wohnsituationen, Familienkonstellationen und immer neue Persönlichkeiten, die miteinander in Beziehung stehen.
Wenn man sich die Hundetrainervorschläge für die Lösung des Konflikts anschaut, dann gibt es gar nicht so viele Ansätze wie es scheint. Es gibt nur viele Namen dafür und unterschiedliche Begründungen. Doch nicht die verschiedenen Ansätze in der Erziehungsberatung sind das Problem, sondern die Diagnosen! Oder anders ausgedrückt: Alle Hundetrainer haben recht, aber nicht jederzeit.
Wenn Hundetrainer sich ausschließlich auf eine bestimmte Methode festlegen, werden sie dazu neigen, ihre Diagnose der Methode entsprechend zu treffen. So stößt man in manchen Hundeschulen zum Thema Aggression an der Leine vermehrt auf jeweils eine der folgenden Diagnosen:
1. Der Hund hat Angst.
2. Der Hund ist der Chef.
3. Der Hund ist unterbeschäftigt.
4. Der Hund hat Stress.
Vielleicht stimmt das, vielleicht stand die Diagnose aber vorher schon fest. Sie haben im letzten Kapitel einiges über die Faktoren für Aggression gelesen und sich mit Anschaffungsgründen und ihren Erwartungen an den Hund auseinandergesetzt. Hoffentlich haben Sie sich und Ihren Hund an der einen oder anderen Stelle wiedererkannt und konnten dadurch etwas mehr über Ihren Standort erfahren.
Prüfen Sie auch für sich selbst, welche Verhaltensdiagnose am besten zu Ihrem Hund und Ihnen passt. Denn Sie sind und bleiben Experte für sich und Ihren Hund. Sie sind nicht schuld an dem Verhalten Ihres Hundes, aber Sie tragen die Verantwortung für seine Erziehung und damit auch für seine Erlebnisse. Lassen Sie Ihren Kopf hinterfragen und hören Sie auf Ihren Bauch.
Werte und Normen: Was ist erwünscht und was nicht?
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Stellen Sie sich vor, die Hundewelt stünde kopf. Sie würden freudig darauf warten, dass Ihr Hund einen anderen Hund anbellt, und ihn sofort mit Futter belohnen, wenn er es tut. Nach und nach wird Ihr Hund immer besser im Zeigen
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