Dünengrab
Möglichkeiten der Krebstherapie in Heidelberg. Er hatte sich darüber informiert, nachdem die Ärzte Harald an der Prostata hatten operieren wollen und dabei feststellten, dass es damit nicht getan wäre. Eine weitere OP stünde an, um Tumorgewebe zu entfernen. Möglicherweise musste die Blase mit raus. Dann waren da noch die verdächtigen Lymphknoten, die die Ärzte nicht entfernen oder bestrahlen wollten, da sie zu nah an der Aorta lagen, deren Gewebe geschwächt war, weil Harald zeitlebens an zu hohem Blutdruck gelitten hatte. Stattdessen wollten sie Harald eine harte Chemo verabreichen – und darauf hoffen, dass das Zeug den Krebs wegbrannte. In Heidelberg hingegen hatten sie feinere Mittel, aber die wurden nicht von der Krankenkasse bezahlt. Tjark erklärte, dass er die Kosten übernehmen würde.
Harald schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Ich will das nicht. Es ist dein Geld und dein Leben. Das hier ist mein Leben.«
»Aber …«
Harald hob die Hand. »Die bekommen mich schon wieder hin. Du musst mich nicht retten, bloß weil du Mama damals nicht retten konntest. Niemand konnte das. Und es wird langsam Zeit, dass du das begreifst.«
Tjark zuckte zusammen. Er blickte seine Schuhspitzen an und knetete die Knöchel. Es war nichts falsch daran, wenn man seinem Vater das Leben retten wollte. Nun, aber die andere Sache …
Zur Silberhochzeit hatte er für seine Eltern eine Reise nach Dänemark mit Ferienhaus auf Jütland gebucht – ein Geschenk von seinem ersten Gehalt. Im Preis inbegriffen war ein Städtebesuch in Göteborg. Harald war in den Dünen umgeknickt, hatte Mama aber den Besuch nicht vermiesen wollen und gesagt, sie solle doch alleine fahren. Was sie dann auch tat. Die kleine Fähre legte morgens ab, um die Meerenge zu durchkreuzen, wo Kattegat und Skagerrak und damit die Ost- und die Nordsee sich treffen, und schließlich in den Hafen von Göteborg einzulaufen. Mama kam nie an. Letztlich konnte keines der zahllosen Gutachten wirklich klären, wie es dazu gekommen war, und es gab auch keine Zeugen des Geschehens. Die wahrscheinlichste Theorie war, dass sie sich am Heck der Fähre auf die Reling gestellt und dabei zu weit nach vorne übergebeugt hatte – vielleicht, um ein Foto zu machen, vielleicht, weil ihr etwas ins Wasser gefallen war, zum Beispiel die Brille oder ihr Hut. Vielleicht, und das war die erschreckendste Erklärung, sei sie auch gesprungen. Zwei Tage nach dem Vorfall war ihre Leiche angespült worden.
Tjark hatte sich lange Jahre Vorwürfe gemacht und gelitten wie ein Hund. Hätte er den Eltern die Reise damals nicht geschenkt, wäre Mama noch am Leben. So einfach war das. Irgendwann war es besser damit geworden. Was blieb, war sein Problem mit dem Wasser und der See. Nun, es hätte Schlimmeres bleiben können.
»Ich habe dich im Fernsehen gesehen«, sagte Harald unvermittelt. »Dieser Mordfall an der Küste.«
»Ich darf nicht …«
»… darüber sprechen, ich weiß. Aber soll ich dir mal aufzählen, wie oft ich dir den Hintern abgewischt habe?«
Tjark lachte leise. »Der Fall«, entgegnete er, »macht mir etwas zu schaffen.«
»Weil du nicht gerne so nah an der See bist.«
»Die Opfer sind ertrunken.«
»Macht es nicht gerade leichter für dich.«
»Nein.«
»Du solltest dir einen guten Arzt suchen. So kann das nicht weitergehen.«
»Ich sitze hier neben dir«, sagte Tjark zögernd, »im Krankenhaus, und du rätst mir zu einem Arzt …«
»Hast du den Mörder bald?«
Tjark ließ die Beine baumeln – wie ein kleiner Junge, der auf einer Mauer und nicht auf einem Krankenhausbett saß. »Schwer zu sagen. Manche von denen da draußen sind ziemlich irre.«
»Du hast es mit so einem zu tun?«
»Ich fürchte, ja.«
»Aber du bist Tjark Wolf. Und dieser Kerl ist es nicht. Ich kann mich daran erinnern, wie einer von den Jungs aus der Siedlung sich mit dir schlagen wollte. Er war größer und stärker und hatte dir Ort und Zeit genannt, wie zu einem Duell. Du bist hingegangen und hast dich nach Strich und Faden verprügeln lassen. Weil du Eier in der Hose hast und kein Hampelmann bist. Du stellst dich den Dingen – auch wenn du keine Chance hast.«
»Heute würde ich nicht mehr hingehen.«
»Wenn man im Leben herausgefordert wird, muss man antreten. Das ist so wie in deinen Comics. Wenn der Böse kommt, dann sind die Guten gefragt.«
»Man muss nicht jeden Kampf kämpfen. Nicht jeder Sieg ist ein Gewinn.«
»Soll ich mit meinem Scheißtumor etwa darüber
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