Dünengrab
unter den Fußsohlen. Eine weiße Nebelwand. Rote Lichter. Und das verzerrte Gesicht ihres Peinigers unter einer Strumpfmaske am Steuer eines Wagens, der fragte, ob sie ihn liebe, bevor er ihr mit dem Ellbogen ins Gesicht schlug.
Der einzige Mann, den Vikki jemals geliebt hatte, war Papa gewesen – so wie eine Tochter eben ihren Vater liebt. Er hatte auf einem Trawler gearbeitet, mit dem er oft bis raus vor die schottische Küste gefahren war, um Schellfische, Seelachs, Makrelen und Kabeljau zu fangen. Er war oft Wochen fort. Wochen, in denen Mama sich zu Tode gesoffen hatte. Man hatte sie erstickt in ihrem Erbrochenen aufgefunden, als Vikki in der Schule war. Und Papa, den hatte sich wenig später der Blanke Hans geholt. So nannte man die Nordsee, wenn sie bei Sturmfluten aufgewühlt war. Blank bedeutete weiß und beschrieb die Gischt auf den Wogen. Auf dem offenen Meer erreichten die Winde schnell Orkanstärke. Dann türmten sich die Wellen bis zu zehn Metern oder mehr. Papa war hinausgefahren und nicht wiedergekommen. Ein Januarsturm hatte sein Schiff verschlungen.
Später hatte Vikki im Winter oft auf dem Deich gestanden und stundenlang auf die See geblickt, deren Farbe von dunklem Grau zu schmutzigem Braun wechselte und Eisschollen vor sich hertrieb. Aber Papa war nicht zurückgekehrt. Nur die Erinnerungen daran, wie er sie lachend auf den Knien geschaukelt und mit ihr Fischerboot gespielt hatte. Daran, dass sein Bart immer ihre Nase gekitzelt hatte und wie er ihr erklärte, worauf man beim Bau von Buddelschiffen achten musste. Und an seine Gruselgeschichten wie die, dass sich in dem Deich, auf dem sie stand, die Leiche eines Kindes befand, denn es sei früher üblich gewesen, dass beim Deichbau ein Kind aus dem Dorf den alten Göttern geopfert wurde, damit der Wall den Wellen standhielt.
Was würde mit ihr geschehen? Würde sie ebenfalls geopfert? Oder nur getötet und dann verscharrt, wenn sie für ihren Entführer zu nichts mehr nutze war? Ihr wurde schwindelig. Als der Anfall vorüber war, beschloss sie, sich auszuruhen. Und danach würde sie aufstehen, um sich ihr Gefängnis und die Sache mit der Kupferschlinge und dem Wasser genauer anzusehen.
34
Carsten Harm war ein langer, dünner Schlaks mit einem strohblonden Backenbart. Seine klaren Augen hatten helle Wimpern, blickten nervös umher und wurden von Krähenfüßen eingefasst. Geplatzte Äderchen auf den hohen Wangen und auf der Nase zeugten entweder von regelmäßigem Alkoholgenuss oder von Wind und Wetter. Tjark war sich nicht sicher, was von beidem zutraf. Harm trug ein derbes, dunkelblaues Fischerhemd mit weißen Streifen und ein rotes Halstuch. Das sollte ihn wohl für Touristen auf Anhieb als Ostfriesen kenntlich machen. Möglicherweise war Harm als Parteichef der bürgerlichen Mehrheitsfraktion im Rat auch besonders darauf bedacht, seine Heimatverbundenheit zu zeigen. Zwei Fahrzeuge waren auf seinen Namen zugelassen: ein kleiner Lieferwagen und ein Mittelklasse-Mercedes.
Harm gehörte der Dünenhof – ein größeres Hotel. Tjark und Fred sahen sich im leeren Frühstücksraum um, der mit Buddelschiffen, Rettungsringen und Netzen mit prächtigen Muscheln dekoriert war. Tjark erinnerte sich gelesen zu haben, dass die meisten dieser Muscheln, die in kleinen Körbchen an der Küste verkauft werden, aus der Südsee stammen und sich inzwischen mehr Südseemuscheln in solchen Körbchen befinden als in ihren natürlichen Lebensräumen auf den Atollen von Tahiti.
Zum Dünenhof gehörten eine Kegelbahn und ein größerer Festsaal, in dem laut Harm Jubiläen, Hochzeiten, Geburtstage und solche Sachen gefeiert wurden. Während Tjark und Harm noch etwas Smalltalk betrieben und Tjark Harms Bestürzung über die Ereignisse zur Kenntnis nahm, blätterte Fred in der Speisekarte und wunderte sich über die thailändischen Gerichte. Harm ächelte und erklärte, dass seine Frau aus Thailand stamme. Er hatte sie weder in Pattaya noch in Laem Chabang kennengelernt, dem größten Hafen Thailands, sondern über eine Heiratsvermittlung aus Innsbruck.
»Sie können sich vorstellen«, fragte Tjark, nachdem sie sich an einem der Tische unter einer Kajütenlampe aus Messing niedergelassen hatten, »weswegen wir mit Ihnen sprechen wollen?«
Harm verneinte. Seine Körpersprache gab eine andere Antwort.
»Vikki Rickmers.«
Harms Adamsapfel hüpfte. Sie fragten ihn zunächst nach einigen Standards, ob er Vikki kenne, woher und wann er sie zuletzt gesehen habe. Als er
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