Dünengrab
Verpflichtung, dir über irgendetwas Rechenschaft abzulegen. Wir haben keinen Vertrag mehr miteinander. Diese Krankheit hat nichts mit dir zu tun.«
Sabine seufzte und ließ eine lange Pause folgen. Als Tjark sie verstreichen ließ, ohne sich für seine harschen Worte zu entschuldigen, sagte Sabine: »Ich habe nur eine Frage gestellt. Und entschuldige bitte, ich will dir nicht zu nahe treten. Entschuldige bitte auch, wenn es mich interessiert, wie es dir damit geht. Mir geht es nämlich schlecht damit.«
Tjark sog genervt an der Zigarette und bog links ab. Dann sagte er: »Es ist Prostatakrebs. Man kann es operieren, aber ein Problem machen eine Reihe von Lymphknoten an der Aorta, die inoperabel sind und nicht bestrahlt werden können. Außerdem kann der Krebs schon in die Lunge gestreut haben.«
»Mist.«
»Es gibt neue, sehr teure Verfahren etwa in der Uni Heidelberg, die eine Bestrahlung dennoch möglich machen.«
»Wenn du Geld brauchst, ich …«
»Ich habe genug. Meine Ex-Frau war Anlageberaterin und hat mir ein paar Kniffe beigebracht.«
Er hörte ein leichtes Lachen und musste nun selbst ein wenig schmunzeln. »Sabine, es tut mir leid, wenn ich wegen dieser Sache sehr angespannt bin. Ich weiß noch nicht, wie es weitergehen wird, und ich habe mich belehren lassen, dass man das bei Krebs letztendlich nie weiß. Es kann gutgehen, es kann ins Auge gehen, es kann immer wieder kommen oder in drei Wochen vorbei sein, vielleicht ist er aber auch in drei Wochen schon tot.«
»Sag mir, dass es gutgehen wird.«
Tjark zog ein letztes Mal an der Zigarette und bog von der Hauptstraße ab. Er hustete und schnippte die Kippe aus dem offenen Fenster. »Es wird gutgehen.«
»Versprochen.«
»Nein.«
»Nicht mal ein bisschen?«
Trotz des ernsten Themas keimte wieder ein Lächeln in Tjark auf. Dieses Spiel hatten sie früher immer getrieben, etwa, wenn es darum ging, ob man pünktlich zum Essen da sein würde. Aber der Reflex, darauf einzugehen, legte sich schnell. Tjark hatte längst damit abgeschlossen, Augenwischerei zu betreiben und sich Dinge schönzureden. Deswegen antwortete er nicht das, was er früher geantwortet hätte. Stattdessen sagte er: »Nicht mal ein bisschen.«
33
Vikki hatte dem Plastikbehälter den Rücken zugewandt und es nach einer Weile geschafft, mit den Fingerspitzen den Schnappverschluss der Campingtoilette zu öffnen. Darin befand sich eine weiße Plastiktüte, die sie mit den Zähnen packte und ausschüttete. Wie in Trance und vor Aufregung zitternd, verschlang sie die Weintrauben. Das Gleiche tat sie mit den beiden Schokoriegeln und zwei Wiener Würstchen. Schließlich drehte sie hinter dem Rücken die kleine Plastikflasche mit dem Multivitaminsaft auf, klemmte das Schraubgewinde zwischen die Zähne, legte den Kopf in den Nacken und trank gierig – still betend, dass ihr die Flasche nicht herunterfallen und sich dabei entleeren würde.
Nach einer Weile kam die Lebensenergie zurück, und Vikkis Zustand verbesserte sich deutlich. Ihr Zustand … Wie war sie überhaupt in die Lage geraten, in die Fänge des Mannes, der sie wohl früher oder später töten würde? Vikki hatte inzwischen ausreichend Zeit gehabt, darüber nachzudenken – aber die Geschehnisse blieben nach wie vor ein Muster aus Eindrücken und isolierten Bildern, die sich nicht zusammenfügen wollten. Sie musste an einer Art Filmriss leiden, was möglicherweise auf eine Gehirnerschütterung zurückzuführen war. Vikki hatte eine vage Idee, woran das liegen mochte. Sie konnte sich erinnern, dass sie aus einem fahrenden Auto gesprungen war. Ein wesentlicher Teil ihrer körperlichen Blessuren war gewiss eine Folge davon, womöglich auch, dass in ihrem Kopf einiges durcheinandergeraten war. Es war neblig gewesen und dunkel, und sie hatte nach ihrem Telefon gesucht.
Aber da waren noch andere Bilderfetzen und Eindrücke. Wie in einer Diashow aus einem anderen Leben zeigten sie Momentaufnahmen, die zwar irgendetwas mit ihr zu tun zu haben schienen, sich aber noch keinen Ereignissen oder einer chronologischen Abfolge zuordnen ließen. Die Bilder waren mehr geworden, je klarer Vikkis Gedanken wurden und je intensiver sie sich darauf konzentrierte, nicht in heillose Panik zu verfallen, sondern in den Überlebensmodus zu schalten. Da waren die Gesichter von Männern. Der Geruch nach Zigarren und Alkohol. Hände an ihrem Körper. Ein Glas an ihren Lippen. Da war ein alter Mann, der vor ihr kniete und sie beschwor. Schneidender Kies
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