Dünengrab
Bilder von der Pressekonferenz der Polizei und die Aufnahmen von der Suchaktion wichen und das Foto einer jungen Frau gezeigt wurde. Verbunden mit der Einblendung war ein Aufruf. Die junge Frau werde vermisst, wie der Sprecher sagte. Sie hieß Vikki Rickmers.
Mommsen setzte den Cognacschwenker an und wieder ab, ohne etwas zu trinken. Wie durch Watte hörte er Anetas aufgeregtes Gebrabbel darüber, wie entsetzlich das alles sei. Jetzt war ihm klar, was die Polizei neulich abends auf der Straße getrieben hatte, als er zu Fokko gefahren war. Er begriff außerdem, warum man heute so dringend versucht hatte, ihn zu erreichen. Und vor allem anderen verstand er, dass es bald große Probleme geben könnte. Denn natürlich wusste er nur zu genau, wer die junge Frau war. Scheiße, er wusste ja sogar, wie sie roch und schmeckte.
Mommsen stand von der Sofalehne auf.
»Wo willst du hin?«, fragte Aneta.
Wie in einem Traum, in dem man sich in einem Becken voller Götterspeise bewegt, wandte er sich um. »Ich muss telefonieren.« Im Weggehen griff er nach der Cognacflasche, hastete die Treppe hinauf ins Arbeitszimmer, wo er sich an den schweren Eichenschreibtisch setzte. Er goss sich noch einen ein. Seine Gedanken rasten. Als Erstes müssten die dämlichen Schietbüddel vom Gemeinderat eingenordet werden, die ihm diese Vikki-Situation eingebrockt hatten. Zweifellos ging ihnen der Arsch auf Grundeis, und Menschen, denen der Arsch auf Grundeis geht, machen Fehler. Fehler, die Mommsen gerade jetzt gebrauchen konnte wie einen Abszess am Hintern.
Mommsen rief die Nummern mit den Kurzwahltasten seiner Telefonanlage auf und überstellte die Leitungen in eine Konferenzschaltung. Er leerte den Cognacschwenker und goss noch einmal nach, während er darauf wartete, dass am anderen Ende jeweils abgenommen wurde. Schließlich stand die Schaltung, und Mommsen hörte sich zunächst einige Minuten lang Lamentieren, Jammern, Bedenken, Vorwürfe und Vorschläge an, was man denn nun tun sollte oder tun könnte. Als er genug davon hatte, sagte er leise: »Das ist alles Blödsinn. Ihr hört mir jetzt ganz genau zu.« Dann erklärte er ausführlich die Verfahrensweise für den Worst Case, vergewisserte sich genauestens, dass auch wirklich alles verstanden worden war, und ergänzte, letztendlich gehe es nur exakt darum, dass jeder schließlich dieselbe Version erzählte.
Dann beendete er das Gespräch und dachte darüber nach, für welche Version er sich selbst entscheiden würde.
31
Sie waren ertrunken. Tjark saß im Wagen und rauchte. Aus dem Radio klang die Stimme von Johnny Fire zu scharfen Southern-Rock-Riffs. Like a ghost, nothing lasts forever. Tjark sah dem Qualm hinterher, der sich wie Nebel im Licht der Parkplatzlaterne verlor. Insekten surrten um das Licht. Einige Meter tiefer vollführten sie wirre Tänze vor dem Neonschild des Kreiskrankenhauses.
Im Hauptgebäude waren noch einzelne Fenster beleuchtet. Drinnen musste man den Fahrstuhl nehmen, ins dritte Obergeschoss fahren und sich rechts halten, um zur Station 22 zu gelangen. Das war die onkologische Abteilung, in der einem Giftstoffe in die Adern gepumpt wurden, die dazu taugten, Löcher in die Bettdecke zu ätzen, wenn der Tropf nicht richtig gesetzt worden war. Sie taugten natürlich auch dazu, um Krebszellen zu zerfressen. Aber nicht immer gelang ihnen das. Für einen Moment überlegte Tjark, ob er nicht einfach aussteigen und reingehen sollte, jetzt und sofort, und sagen: Okay, hier bin ich. Dann warf er einen Blick auf die vorläufigen Obduktionsbefunde, die in der Mappe auf dem Beifahrersitz lagen.
Ertrinken, wusste Tjark, ist ein stiller Tod. Wem das Wasser die Luft nimmt, der hat keine Kraft mehr, um Hilfe zu rufen. Pathologen können auch ohne toxikologische Proben aus den Atemwegen auf Anhieb zwischen Ertrinken in Salz- und im Süßwasser unterscheiden. Das hat mit dem Austausch von Ionen im Lungengewebe und einem Vorgang namens Plasmolyse zu tun. Man gliedert das Ertrinken in fünf Stufen. In der ersten Phase begreift man, was mit einem geschehen wird, und gerät in Panik. Danach versucht man, die Luft anzuhalten, damit kein Wasser in die Atemwege gelangt. Hier kann bereits Schluss sein, wenn sich der Kehlkopfdeckel nicht wieder öffnet. Man erstickt, ohne dass Wasser in die Lunge gerät. Lässt der Reflex jedoch nach, ändert sich das in der nächsten Phase, die schließlich zu Muskelkrämpfen führt, wenn das Gehirn keinen Sauerstoff mehr bekommt. Danach:
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