Duenenmord
brauchen wir ihre detaillierte Aussage, durch die ja möglicherweise sogar mildernde Umstände für Sie möglich werden.«
»Bitte? Wovon reden Sie?« Er starrte sie mit offenem Mund an.
»Herr Sänger, haben Sie Ihre Frau getötet, weil Ihnen nach einem heimlichen Blick in Monikas Netbook, bei dem Sie die Mails des Missbrauchsopfers entdeckten, klarwurde, dass sie sich auch an Ihrer Tochter vergriffen hat?«
Sekundenlang blieb es still. Dann schüttelte Sänger den Kopf. »Ich brauche ein Glas Wasser und eine Pause.«
Kasper stoppte die Aufnahme. »Kriegen Sie beides.«
Zwei Minuten später betrat ein Polizist den Raum, so dass Romy und Kasper nach nebenan gehen konnten. Romy hatte keine Ruhe, sich hinzusetzen, sondern lief auf und ab und fuhr sich hektisch durchs Haar. »Irgendwie ist der Mann … merkwürdig, findest du nicht?«
»Was erwartest du? Er ist am Ende.«
»Ja, das auch. Aber findest du nicht, dass er, hm – ja, unentschlossen wirkt? Mal verwahrt er sich heftig gegen den Vorwurf, wird aggressiv, dann wieder reagiert er irgendwiebetroffen oder erhebt Einwände gegen unsere Schlussfolgerungen …«
»Das ist eine Stressreaktion«, meinte Kasper. »Würde ich nicht überbewerten. Nach der Pause verlangt er entweder einen Anwalt, oder er legt ein Geständnis ab.«
»Wir werden sehen.«
Max Breder kam vergleichsweise eilig um die Ecke und wedelte mit einem Blatt Papier. »Ich habe was!«, meinte er. »Heise hat offensichtlich einige Dateien von Monikas Netbook aufgehoben oder für uns zusammengestellt, von denen er annahm, sie könnten bei der Mordermittlung hilfreich sein. In einem Ordner, der sich Persönliches nennt, finden sich allerlei Eintragungen – Termine, Familienfeste, Geburtstage, aber auch Ferienzeiten und so weiter und so fort. Hin und wieder tauchen im Kalender sehr private Eintragungen auf …«
»Zum Beispiel?«, fragte Romy.
Max räusperte sich. »Wann die Eheleute Sex hatten und wie er war.«
Kasper kratzte sich im Nacken.
Die Ehe war diesbezüglich offenbar glücklich gewesen, dachte Romy. Sie zeigte auf das Blatt in Breders Hand. »Und was ist das?«
»Eine ihrer letzten Anmerkungen. Lest selbst.«
Romy nahm die Seite und las laut vor:
»Lotte ist so etwas wie mein Koan. Rätsel und Aufgabe, Bürde und Last. Buße und Schicksal. Strafe. Ich zahle meine Schuld ab, aber sie wird nicht kleiner, so sehr ich meine Wut, meine berechtigte Empörung zu beherrschen und mich in Nachgiebigkeit und Geduld zu üben suche – seit nahezu siebzehn Jahren. Aber vielleicht ist das, was ich getan habe, nicht abzuzahlen, denn würde sie kleiner werden, hätte sich längst etwas geändert. Doch so wie mich das Kind mit allen Sinnen gehasst, ja: verabscheut hat, tut es in unverminderter Stärke auch die junge Frau. Wir werden niemals auch nur ein friedliches Nebeneinander erreichen oder gar freundschaftliche Akzeptanz. Jede Zuwendung von Michael, jedesliebe, verständnisvolle, gar zärtliche Wort neidet sie mir. Und er? Ist ihr gegenüber blind auf beiden Augen, taub auf beiden Ohren, und die Hände sind ihm gebunden, einmal Partei für mich zu ergreifen und zu mir zu stehen. Sie hat das Herz ihres Vaters für immer und ewig erobert und musste nie etwas Besonderes dafür tun.
Ich suche nach meiner eigenen Geschichte, nach der meiner Familie und ihrer Verwurzelung auch hier auf der Insel. Je tiefer ich grabe, desto mehr Unheil bahnt sich von allen Seiten an. Unheil, das ich mich kaum traue, zu benennen, auch hier nicht. Die Steilküsten brechen ab in diesem Winter, und ein Kind ist verschwunden. Das ist wie ein dunkles, böses Zeichen. Vielleicht hätte ich niemals auf die Insel zurückkommen dürfen. Rügen will mich nicht. Das kann ich verstehen. Lotte ebensowenig. Auch das ist verständlich. Aber das macht es nicht leichter. «
Sekundenlang fiel kein Wort. Romy war erschüttert. Sie sehnte sich danach, den Fall abzuschließen, und sie sah den anderen an, dass es ihnen ähnlich erging. Das Gespräch mit Maritta Dohl ging ihr durch den Kopf. »Das passt zur Aussage einer Kollegin, mit der Monika Ende der neunziger Jahre zusammenarbeitete und Volleyball spielte und mit der ich vorhin gesprochen habe«, hob Romy schließlich leise an. »Sie schildert Lotte als egozentrisches Püppchen, das Monika, die sich große Mühe mit ihr gab, nie eine Chance ließ und der sie immer ein Dorn im Auge war …« Romy warf plötzlich den Kopf herum und starrte Kasper an. Der hatte im selben Augenblick den
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