Duenenmord
Solche Phasen sind doch nichts Besonderes, wenn man einen anspruchsvollen Alltag bewältigen muss. Mir geht es häufig ganz ähnlich.«
Romy wandte sich an Lotte Sänger. »Können Sie den Eindruck Ihres Vaters bestätigen?«
»Unbedingt. Anspannung trifft es sehr gut. Sie hatte eine Menge Termine am Hals, soweit ich das mitbekommen habe.«
»Verstehe. Frau Sänger, Ihr Vater sagte uns vorhin, dass Sie gestern zu Hause waren und sich hingelegt hatten, weil Ihnen nicht wohl war«, wechselte Romy schließlich das Thema.
Lotte legte den Löffel auf den Unterteller. »Ja, ich hatte heftige Kopfschmerzen und habe mich zurückgezogen. Ich leide hin und wieder unter Migräneattacken und muss rechtzeitigTabletten nehmen, damit sie wirken, und ein paar Stunden schlafen.«
»Wann war das ungefähr?«
»Am späten Nachmittag, es war schon dunkel«, Lotte sah ihren Vater an. »Ungefähr um fünf?«
Michael Sänger nickte. »Ja, fünf, halb sechs vielleicht. Als Olaf kam, hattest du dich bereits zurückgezogen, und vielleicht eine halbe Stunde nachdem er sich verabschiedet hatte, bist du kurz aufgestanden.«
»Richtig. Ich habe geduscht und eine Kleinigkeit gegessen und mich wieder hingelegt«, erläuterte die junge Frau. »Schlaf ist das beste Mittel bei Migräne.«
»Das heißt, Sie haben gar nicht mitbekommen, dass Ihr Vater sich sorgte, weil Ihre Mutter …«
»Monika – sie war nicht meine Mutter.«
»Ach ja, das hatte ich vergessen.«
Lotte trank einen Schluck Tee. »Nun, er sagte etwas in der Richtung, dass Monika eigentlich längst zurück sein wollte und sich auf dem Handy nur die Mobilbox meldete. Und ich meinte, dass sie wohl noch in ihrer Besprechung sitzen und sicherlich demnächst kommen würde …« Sie zuckte mit den Achseln. »Eine Stunde früher oder später fand ich nicht so besorgniserregend.«
»Sie haben demnach geschlafen, während Ihr Vater«, Romy wandte sich an Michael Sänger, »noch eine Weile gewartet, schließlich herumtelefoniert und letztlich die Polizei benachrichtigt hat. Richtig?«
Beide Sängers nickten.
Romy runzelte die Stirn. »Sie haben Ihre Tochter nicht geweckt, als Ihre Frau auch Stunden später nicht zu erreichen war?«
»Nein.« Michael Sänger schüttelte den Kopf. »Sorgen machen konnte ich mir auch alleine. Lottes Migräneattacken sind fürchterlich, und ich wollte sie schlafen lassen. Gegendrei Uhr morgens bin ich dann selbst hier auf dem Sofa eingenickt …«
Ein sehr rücksichtsvoller Vater, der darüber hinaus nicht ausschloss, dass seine Frau plötzlich in der Tür stehen und eine simple Erklärung für ihre Verspätung parat haben könnte.
»Und heute früh?«, hob Romy wieder an.
»Was meinen Sie?«
»Sie sind wach geworden, Ihre Frau war immer noch nicht aufgetaucht, und niemand wusste, wo sie abgeblieben sein könnte«, erläuterte die Kommissarin. »Ihre Sorge war absolut berechtigt. Bis mein Kollege und ich vor der Tür standen, sind sicherlich noch ein, zwei Stunden vergangen, oder?«
»Ja, und?«
»Und Ihre Tochter haben Sie damit immer noch nicht behelligen wollen?«
»Nein. Sie schlief tief und fest. Die schreckliche Nachricht kam früh genug, oder?«, erwiderte Sänger nun deutlich genervt. »Was sollen diese seltsamen Fragen eigentlich? Es ist doch völlig nebensächlich, wann ich …«
»Es ein grausames Verbrechen geschehen«, unterbrach Romy ihn in bestimmtem Ton. »Und ich stelle Fragen, alle möglichen Fragen. Das ist meine Aufgabe. Manche mögen Ihnen unberechtigt oder hartherzig, unverständlich oder völlig unangemessen erscheinen – das tut mir leid und liegt nicht in meiner Absicht. Ich suche nach Spuren und Hinweisen, die mir dabei helfen, einen Mord aufzuklären.«
Lotte goss sich frischen Tee nach. Romy spürte ihren forschenden Seitenblick, erwiderte ihn aber nicht. »Herr Sänger, meine folgende Frage empört Sie unter Umständen ganz besonders, aber ich muss sie trotzdem stellen: Hatte Ihre Frau eine außereheliche Beziehung, oder vermuteten Sie eine Affäre?«
Michael Sänger schnappte nach Luft. »Ach, daher weht der Wind!« Seine Tochter legte ihm rasch eine Hand auf denUnterarm. »Natürlich muss die Polizei danach fragen, Papa«, sagte sie.
Sänger drückte die Hand seiner Tochter und atmete einmal tief durch. »Schon gut … Nein, sie hat mich nicht betrogen und ich sie auch nicht – unsere Ehe war gut, sieht man einmal von den üblichen Reibereien und Konflikten ab, wie sie in jeder langjährigen Beziehung
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