Duenenmord
sie von ihrem Morgenspaziergang heimkam und die Hände am Kamin wärmte, während sie versuchte, den Blick von ihrem Inneren abzuwenden. Aber das wäre vielleicht auch zu einfach gewesen. Furcht hat immer einen Grund. Manchmal trägt sie eine Maske, die man herunterreißen muss. Das war ihr erst sehr spät klar geworden. Sie schnappte nach Luft und schob die plötzlich hoch schwappenden Bilder beiseite. Nicht jetzt, später, morgen … Im Radio lief ein weiterer Bericht über das vermisste Mädchen, dazwischen Tipps für den Wochenendeinkauf.
Das Telefonklingeln riss sie aus ihren Gedanken. Sie wusste, dass es ihre Mutter war – der Blick aufs Display bestätigte ihre Annahme, und sie hatte keine Lust, mit ihr zu reden. Aber wenn Silke nicht ranging, würde ihre Mutter es später noch einmal versuchen und noch einmal und irgendwann vielleicht unangemeldet vor der Tür stehen. Ihre Mutter konnte nervtötend sein mit ihrer Sorge – es war auch ihre Idee gewesen, die Tochter zu Weihnachten mit einer Alarmanlage für ihr Haus zu überraschen, die natürlich gleich noch im alten Jahr eingebaut worden war. Silke brauchte keine Alarmanlage, um sich sicher zu fühlen. Ihre Mutter fühlte sich dann sicher und näher mit der Tochter verbunden – ob die das wollte oder nicht. So einfach war das.
Silke nahm ab. »Es geht mir gut«, sagte sie. »Alles in Ordnung.«
»Du klingst aber merkwürdig.«
»Es ist alles in Ordnung.«
Seufzen. »Rate mal, wer gerade angerufen hat.«
Silke biss die Zähne aufeinander. »Er soll mich in Ruhe lassen.«
»Tut er doch. Sven hat uns angerufen. Niemand kann verstehen, warum du ihn verlassen hast – ihr hattet doch alles …«
»Mutter, wie oft willst du mir diese Litanei noch zumuten? Ich treffe meine eigenen Entscheidungen.«
»Bis ich es verstanden habe. Bis ich weiß, was dich getrieben hat, diesen wunderbaren Mann zu verlassen«, erwiderte ihre Mutter mit ungewohnter Heftigkeit. »Ihr habt zusammen eine Baufirma geleitet, die sich vor Aufträgen kaum retten kann – jetzt interessierst du dich nur noch für dein einsames Haus und beschäftigst dich auf einmal mit der Prora, diesem widerlichen Klotz, den wirklich niemand braucht! Ihr seid gereist und habt das Leben genossen, er ist charmant und war immer gut zu dir, auch wenn du mal wieder unter einer deiner Stimmungsschwankungen gelitten hast. Er wollte Kinder mit dir, hat aber akzeptiert, dass du dich anders entschieden hast. Was kann man denn noch von einem Ehemann erwarten? Oder erzählst du mir nicht alles?«
Natürlich nicht. Du hörst doch nur, was du hören willst, und du siehst nur, was du sehen willst. Das war schon immer so. Silke starrte ins Leere, während ihre Mutter weiter zeterte und klagte, als ginge es um ihre Ehe und als sei sie die Verlassene, eine zu unrecht Verlassene natürlich.
»Er war nicht der Richtige«, unterbrach sie irgendwann den Redeschwall. »Und du solltest dich langsam damit abfinden. Ich habe ihn vor zwei Jahren verlassen, und geschieden sind wir seit einem Jahr.«
»Und er ruft immer noch an – bei uns.«
»Er sollte sich auch damit abfinden.«
»Offensichtlich gelingt ihm das nicht.«
»Das ist sein Problem, Mutter! Und ich will jetzt nicht mehr darüber sprechen. Bis die Tage …«
»Warte, Silke, leg nicht auf!«
»Es reicht jetzt.«
»Ja, schon gut. Es geht um was anderes. Hast du heute schon einen Blick in die Zeitung geworfen?«
»Nein. Ich bin gerade erst zur Tür herein, danach durfte ich mir deine Jammer-Arie anhören.«
»Am Strand von Göhren ist eine Frauenleiche gefunden worden.«
Silke legte wortlos auf.
6
Sie fuhren mit Kaspers Wagen über Lietzow nach Sassnitz, vorbei am Großen und Kleinen Jasmunder Bodden – eine Strecke, die sie im letzten Jahr häufig gefahren waren, als es um den Mord an Kai Richardt ging, der auf dem Gelände einer Fischfabrik in einem alten Schuppen am Hafen gefunden worden war. Romy schob den alten Fall beiseite und blickte kurz zum Fenster hinaus – von weitem erweckte die Schneedecke den Eindruck von gleißend hellem Sandstrand –, bevor sie sich auf die vor ihr liegende Aufgabe konzentrierte.
Stefan Heise war, wenn das Foto von seiner Homepage der Realität auch nur halbwegs nahekam, ein ausgesprochen attraktiver Mann und ein Typ, der sich ganz sicher nicht so einfach die Butter vom Brot nehmen lassen würde, wie sein leicht gerecktes Kinn dem Betrachter signalisierte. Heise verkaufte Sicherheitstechnik sowie Objekt- und
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