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Duenenmord

Duenenmord

Titel: Duenenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Peters
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passiert. Aber hatten sie eine Chance, zeitnah von den Einzelheiten zu erfahren – nach fast siebzehn Jahren? Und was würde sich ermittlungstechnisch ändern, wenn sich ihre Befürchtungen bestätigten?
    »Reines Interesse, Herr Bäsler«, entgegnete sie kurz entschlossen. »Ich danke Ihnen und alles Gute, auch für Ihre Tochter.« Sie legte schnell auf.
    Wenige Minuten später versuchte Romy erneut, Lotte zu erreichen und hatte diesmal Glück. Sängers Tochter ging nach dem dritten Klingeln an ihr Handy. »Ich bin auf dem Weg in die Bücherei«, erklärte die junge Frau nach knappem Gruß in gehetztem Ton.
    »Ich halte Sie nicht lange auf, Frau Sänger«, versprach Romy. »Wir müssen noch mal mit Ihnen sprechen. Könnten Sie es zeitnah einrichten, im Kommissariat vorbeizukommen? Sie sind doch sicherlich gerade jetzt häufiger in Bergen.«
    »Im Moment habe ich sehr wenig Zeit«, erwiderte Lotte. Sie atmete schneller, und Romy konnte an den Hintergrundgeräuschen erkennen, dass sie an einer Straße stand oder im Begriff war, sie zu überqueren.
    »Ich darf Sie erinnern, dass wir in einem Mordfall ermitteln.«
    »Ich weiß, aber … Also, mein Vater hat mir erzählt, was Sie herausgefunden haben, und ich kann Ihnen versichern, dass Monika mich in keiner Weise angerührt hat. Niemals.«
    »Danke, dass Sie so schnell zur Sache kommen, aber die telefonische Aussage genügt mir nicht.«
    Es raschelte und knarzte in der Leitung. »Na schön«, vernahm Romy schließlich wieder Lottes Stimme. »Ich besuche in den nächsten Tagen meinen Vater und komme dann vorbei, um meine Aussage zu machen. Ist das in Ordnung?«
    Besser als gar nichts, dachte Romy, bedankte sich aber höflich.
    Dieser Tag war überschattet gewesen und schließlich in völliger Dunkelheit versunken, seines Daseins wie beraubt. Die Seele kannte solche Tricks, hatte sie mal gelesen. Das Geschehen hatte sich zu einem blinden Bündel im hintersten Winkel zusammengekauert, leise pulsierend, bis zur Entfremdung verzerrt, gefangen und doch unbeherrschbar und angsteinflößend. Ans Licht gezogen war alles zu neuem Lebenerwacht: die Erinnerung an die Geschehnisse und in ihrem Gefolge Schock und Schmerz, Panik, lähmende Dunkelheit, aber auch die allmählich wachsende Gewissheit, die Dinge nun selbst in die Hand nehmen und agieren zu müssen. Manches war abrupt und mit brachialer Gewalt auf sie eingestürmt, dass es ihr den Atem verschlug, anderes hatte sich nach und nach Bahn gebrochen.
    Nichts geschieht ohne eine Gegenbewegung, dachte Silke. Nun weiß ich zwar, warum ich bin, wie ich wurde, aber frei bin ich nicht, nicht mal jetzt. Das Grab der alten Erinnerungen ist geöffnet und leer geräumt. Es bietet Platz für neue, die ich mit aller Macht hineinstoßen und tilgen möchte, und der Kreislauf beginnt aufs Neue. Woran sie sich plötzlich auch erinnerte, war Jurek. Ausgerechnet ihre Mutter hatte ihn erwähnt.
    »Die Stoltes haben ihm eine Grabstätte eingerichtet, genau ein Jahr danach – na ja, eher so etwas wie eine Gedenkstätte«, hatte sie letztens am Telefon erzählt, ohne dass Silke im Nachhinein hätte sagen können, was der Anlass für dieses Thema gewesen war.
    Sie schaltete oft genug auf Durchzug, ließ ihre Mutter reden und reden und reden, während sie zum Fenster hinausstarrte, Notizzettel vollkritzelte oder im Internet surfte …
    »Das kann ich gut verstehen. Du müsstest dich doch eigentlich an ihn erinnern. Er hieß Jurek und war im gleichen Kindergarten wie du. Er ist damals verschwunden, nach dem Kinderfest am Strand von Göhren. Weißt du das nicht mehr?«
    Wie ein gleißend heller Pfeil war das Bild des Jungen auf sie zugeschossen: braune Locken, grüne Augen, ein schelmisches Grübchen. Acht oder neun war er gewesen, ein aufgewecktes, freundliches Kind, das an jenem Tag verschwunden war. Sie hatten ihn überall gesucht – am Strand und in den Dünen, später waren Boote aufs Meer hinausgefahren, diePolizei hatte die Umgebung mit Spürhunden abgesucht, tagelang. Ohne Erfolg. Es gab keine einzige Spur von Jurek. Der Boden schien ihn verschluckt zu haben.
    Seine Eltern wohnten immer noch in Bergen, in der Nähe des Ernst-Moritz-Arndt-Stadions, wie Silke nach dem Telefonat mit ihrer Mutter mit einem Blick ins Telefonbuch feststellte. Als sie trotz der winterlichen Straßenverhältnisse aufbrach, wusste sie selbst nicht so genau, was sie trieb. Vielleicht der Wunsch, einen Blick auf die Grabstätte im Garten zu werfen und Abschied zu nehmen

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