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Duenenmord

Duenenmord

Titel: Duenenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Peters
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von Jurek, an den sie sich erst jetzt wieder erinnerte und der wahrscheinlich an jenem Tag gestorben war, der unter den Tagen, die ihr Leben auf den Kopf gestellt, vielleicht zerstört hatten, der eindringlichste gewesen war. So schien es ihr jedenfalls im Nachhinein.
    Das kleine Reihenhäuschen wies durchaus noch einen Rest DDR-Flair auf, war jedoch in kräftigem Orange gestrichen und mit hohen Büschen zur Straße abgeschirmt. Im Garten stand ein Schneemann, wie Silke mit einem Blick durch eine Lücke im Gebüsch erhaschen konnte. Jurek hatte eine kleine Schwester gehabt, erinnerte Silke sich. Vielleicht hatte sie die Stoltes zu Großeltern gemacht.
    »Was tun Sie da?«
    Silke fuhr herum. Eine grauhaarige, wintergerüstete Frau stand hinter ihr und musterte sie mit ungehaltenem Blick, die Hände in die Hüften gestützt. Silke schätzte sie auf sechzig, und sie wirkte ausgesprochen agil. »Frau Stolte?«
    »Wer will das wissen?«
    »Ich bin Silke. Silke Kronwald.«
    »Sagt mir nichts.« Die Frau machte eine unwirsche Handbewegung. »Gehen Sie weg von meinem Zaun!«
    »Hoffer, geborene Hoffer. Ich bin mit Jurek zusammen in den Kindergarten gegangen.«
    Das Gesicht der Frau erwärmte sich für Sekundenbruchteileunter einem Lächeln, bevor es einen ernsten, abwesenden Zug annahm. »Das ist lange her. Hoffer, sagen Sie?«
    »Sie kennen wahrscheinlich meine Mutter, Regine …«
    »Ja, richtig. Aber bist du nicht nach Hamburg gegangen?«, fiel Jureks Mutter sofort ins Du.
    »Ich bin zurück – seit einiger Zeit schon.«
    »Die Insel lässt einen nicht los, was?«
    »Nein, tut sie nicht.«
    Frau Stolte nickte und wies dann in Richtung des Hauses. »Magst du einen Tee trinken?«
    »Ja, gerne.«
    Wenig später saßen sie in Stoltes Küche an einem runden Bauerntisch zusammen. Silke hatte die Schuhe ausziehen müssen, weil frisch gewischt war, wie Frau Stolte in energischem Ton erörtert hatte. Während der Kessel sang, stellte sie Gebäck auf den Tisch und erzählte, dass der Alte zum Skatkloppen war und dann meistens einen über den Durst trank.
    »Bist du zufällig hier?«, fragte sie schließlich und goss den Tee ein.
    »Nein. Mir geht viel im Kopf herum.«
    »Und dazu gehört auch Jurek?« Frau Stolte klang erstaunt. »Du warst selbst noch ein Kind und so verstört damals. Wie wir alle.«
    »Wohl wahr.«
    Jureks Mutter rührte mit bedächtigen Bewegungen Kandis in ihren Tee. Sie hat die Augen ihres Sohnes, bemerkte Silke erst jetzt. »Meine Mutter hat mir erzählt, dass Sie eine Grabstätte für ihn errichtet hätten, besser gesagt einen Gedenkplatz.«
    »So was erzählt dir Regine?«
    Sie erzählt viel, wenn der Tag lang ist, dachte Silke, und der Gedanke warf seinen Schatten wohl über ihr Gesicht, denn Frau Stolte lächelte plötzlich spitzbübisch. »Ja, hier imGarten«, fuhr sie nach kurzem Zögern fort. »Man braucht einen Platz, an dem man zu ihm sprechen kann. Ich jedenfalls.«
    Sie machte eine unbestimmte Handbewegung. »Wenn du später gehst, kannst du einen Blick darauf werfen. Ganz hinten, unterm Apfelbaum, da hat er oft gesessen und gespielt. Ich finde den Platz schön. Er wird nicht verändert.«
    Silke schluckte.
    »Nimm noch einen Keks«, sagte Frau Stolte und schob die Schale über den Tisch. »Kannst es vertragen. Eigentlich hätten wir den Platz am Herzogsgrab im Mönchguter Forst einrichten müssen«, erzählte sie weiter.
    Silke stellte ihre Teetasse wieder ab.
    »Das alte Hünengrab hat ihn gefesselt, seitdem sie das Thema in der Schule hatten. Er hat sogar zusätzliche Hausaufgaben gemacht, Zeichnungen angefertigt, gebastelt …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich dachte damals, der Junge wird mal ein Gelehrter für den ganz alten Kram, verstehst du? Von wem er das bloß hatte? Von mir bestimmt nicht, und der Alte, na ja …« Sie winkte ab und lächelte.
    Silke hatte plötzlich Jureks Stimme im Ohr und sah ihn vor sich, wie er die geschichtlichen und geographischen Daten in epischer Breite referierte – auch in der Kita hatte er sich mit dem Thema beschäftigt und jeden an seinem Wissen teilhaben lassen, ob der nun daran interessiert gewesen war oder nicht.
    Über viertausend Jahre war die Grabanlage alt. Entstanden war sie in der Jungsteinzeit, um vierzig Personen mit Grabbeilagen in einer Kammer zu bestatten. Anfang der 1960er Jahre fanden archäologische Untersuchungen statt … Silke schüttelte verblüfft den Kopf. Was das Gehirn alles abspeicherte, war schon erstaunlich.
    »Sie haben damals

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