Duenne Haut - Kriminalroman
höheren Gesetz folgt, so muss man sich halt an die selbstgebastelten Regeln halten.“
„Gewissen Gesetzen, zum Beispiel jenen des Schachspiels, scheinst du aber durchaus nicht abhold zu sein – du kultivierst sie ja geradezu.“
„Erstens ist Schach kein Spiel, und zweitens kultiviere ich gar nichts – ich beuge und verneige mich ehrfürchtig vor diesem Regelwerk. Schach ist das blutige Abbild unseres Lebens. Denk nur an den Faktor Zeit. Wenn einer sagt, er habe wieder nur wegen der Zeit verloren, immer liege es nur an der Zeit, dann zeigt das bereits, dass er nicht nur ein schlechter Verlierer ist, sondern auch mit den Grundsätzen des Lebens auf Kriegsfuß steht. Die Schachuhr ist ein ebenso unbestechlicher Schiedsrichter wie der Tod. Ihr sind Psychotricks und sonstiger Schnickschnack einerlei. Die Klappe beendet gleichmütig jedes Spiel, egal, ob es sich um eine lahme Hängepartie oder um einen genialen Schlagabtausch gehandelt hat. Aber wenn sie fällt, fährt dir ein eisig kalter Windhauch durchs Gemüt. Weil: Vor der Schachuhr sind wirklich alle gleich. Wie vorm Sensenmann.“
„Nicht unbedingt eine große Motivation, sich mit diesem Spiel intensiv zu beschäftigen.“
„Im Gegenteil: Du musst die Regeln der Herrschaft kennen, um dich gegen sie wehren zu können! Die Gesetze von Macht und Ohnmacht – wo kannst du sie besser studieren als auf den vierundsechzig Feldern des Schachbretts? Das haben die Herrscher aller Zeiten und Länder begriffen. Nimm den machtgeilen Papst Bonifaz VIII zum Beispiel. In seinem Palast in Anagni kannst du heute noch ein Schachfresko bewundern – als
das
Sinnbild der Machtausübung.“
„Prost!“ Der Wirt knallt die schweren, gut gefüllten Krüge so martialisch auf die Tischplatte, dass sich ein wenig vom Bierschaum ablöst und wie eine überdimensionale Schneeflocke durch die Luft segelt. Hagen schnappt sich einen Krug.
„Was jetzt wirklich mächtig ist, Ernst, das ist mein Durst.“
Sie stoßen das dunkle, stark gemälzte Bier hinunter, als wären sie in den vergangenen Wochen zu Stockfischen ausgetrocknet. Aus dem Radio dröhnt bayrische Volksmusik mit einem politisch nicht ganz korrekten Text.
„Genial, dieser Hopfensaft“, bekundet Prader.
„Heilig!“, steigert ihn Hagen.
„Mit
dem
Attribut wär ich vorsichtig. Weil allen möglichen Leuten alles Mögliche heilig ist, schlagen sie sich so gern die Schädel ein. Für mich ist höchstens die Unterhose heilig.“
„Hä?“
„Na ja, gestern hab ich am Anschlagbrett einige Verse gelesen, die einer unserer Mitpatienten aufgehängt haben dürfte. Getarnt als Weisheit der Woche. Pass auf, es geht so:
„Heilig ist die Unterhose,
wenn sie sich in Sonn’ und Wind …“
„… frei von ihrem Alltagslose,
auf ihr wahres Selbst besinnt.“
„Ganz genau! In dem Fall hast du den Zettel auch gesehen?“
„Nein, ich kenne das Gedicht schon von früher. Christian Morgenstern, mein Lieblingsdichter.“
„Bravo! Ein Polizist, der Lyrik liest! Noch dazu das Werk eines Schwermütigen, der mit seinen Gedichten alle Welt froh gestimmt hat, nur sich selbst nicht.“
Genau wie du, denkt Hagen. Sie stoßen noch einmal an. Der nächste Schluck leert bereits die Gläser, aber der Wirt ist ohnehin schon mit Nachschub unterwegs. Offenbar braucht man im Goldenen Krug nur einmal zu bestellen.
„Apropos“, sagt Prader und hebt den Zeigefinger wie Lehrer Lämpel. „Die Unterhose hat es eindeutig leichter als wir, ihr wahres Selbst zu finden. Wie oft sagst du dir, ehe du ins Bett steigst: Ich muss mich ändern, morgen werde ich mich ändern. Und am nächsten Tag wachst du auf, und wer hat sich geändert? Eben!
Same procedure as every year
. Da drängt sich schon die Frage auf: Ist der Mensch, der Mensch als solcher, überhaupt in der Lage, sich zu ändern? Ist er nicht schon so an seine Schieflage gewöhnt, dass jeder Versuch, eine höhere, weniger schiefe Ebene zu erklimmen, scheitern muss? Vielleicht besteht die Dialektik gerade darin, dass nur die Schieflage uns halbwegs stabil hält. Der berühmte Möglichkeitsmensch: Er kann seine Möglichkeiten nicht nutzen, ist er doch ständig damit beschäftigt, sie zu verputzen oder sich in schöner Regelmäßigkeit selbst zu beschmutzen. Immerhin, die Kirchen profitieren von dieser unserer Bredouille.“
Hagen fühlt sich ins Kabarett versetzt. „Geh ich recht in der Annahme, dass der Herr Künstler nicht zu den intensivsten Kirchgängern und Rompilgern
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