Duenne Haut - Kriminalroman
Wartung. Manchmal könnte schon ein verständnisvolles Wort die nötige Schmiere liefern für unser Getriebe. Was allerdings voraussetzt, dass man erstens seine Probleme als solche akzeptiert und zweitens damit nicht hinter dem Berg hält. Würden Sie soweit zustimmen?“
„Klar“, räumt er ein, „klingt alles schlüssig.“
Tief drinnen ist er weniger konziliant. Die Frau mag ja nett und gescheit sein, aber sie redet sich leicht. Sein soziales Netz ist derzeit löchriger als die Ozonschicht über Australien. Und welcher seiner wenigen verbliebenen Freunde hielte es aus, würde er von Lisas Tod erzählen? Und von dem, was er in ihm hinterlassen hat?
Dr. Grein ist bereits auf einer anderen Schiene unterwegs. „Vor dem Dekompensieren kommt zumeist jahrelanges Kompensieren. Wie haben Sie denn bisher Ihre ständige Belastung in Beruf und Privatleben ausgeglichen? Welche besonders schwierigen Erlebnisse fallen Ihnen in diesem Zusammenhang ein?“
In Hagens Kopf spuken Stangen von Entspannungszigaretten herum, verbünden sich mit Fässern von Entlastungsbierchen und jenem berühmten doppelten Klaren, der auch in mehrfacher Auflage keine Klärung bringt. Und ganz hinten in diesem Keller wird er endlich fündig: ein kleiner, bleicher Bubenkörper, der an die zwanzig Abdrücke von Bissen aufweist.
„Peter“, sagt er mit Nachdruck, „Peter Bartolini, so hieß der Junge.“ Irgendwie kommt es ihm wichtig vor, den vollständigen Namen des Opfers zu nennen und nicht wie üblich nur vom Bartolini-Fall zu reden. „Ermordet von der eigenen Mutter, im Alter von zehn. Und es wurde nie ganz geklärt, ob sie ihm die Bisse vor oder nach dem Tod zugefügt hat. Ja, das war vermutlich mein schlimmster Fall.“
„Schlimmer als Lochau?“ Sie stellt die Frage wie beiläufig, kramt dabei in ihren Unterlagen.
„Lochau? Wie kommen Sie darauf?“
„Weil Sie“ – sie zieht ein großformatiges Aquarell aus der Mappe, das er sofort wiedererkennt – „weil Sie diesem abstrakten Gemälde den Titel
Lochau
gegeben haben. Genauso wie dem, und dem, und dem da …“
Er schaut auf die vier Blätter, die sie vor ihn hingelegt hat. Alle sehr rotlastig, mit diffusen schwarzen Einsprengseln.
„Ich bin kein guter Maler“, sagt er entschuldigend.
„Darum geht es auch nicht“, sagt sie. „Aber könnte es sein, dass diese Bilder etwas von dem darstellen, was Ihnen so schwer über die Lippen kommt, Anton?“
Er versucht, mit beiden Händen die Verspannung zwischen seinen Schulterblättern wegzudrücken.
„Warum wollen Sie nicht darüber sprechen, was Lochau für Sie bedeutet? Das ist doch eine Stadt in Vorarlberg, nicht wahr?“
„Eine kleine Gemeinde. Aber mit dem Ort hat es eh nichts zu tun.“
„Womit dann?“
„Mit einem Eisenbahnunglück, das sich dort im letzten Dezember ereignet hat. Zwischen Bregenz und Lochau wurden zwei Polizisten und ein Leichenbestatter von einem Zug erfasst. Sie waren gerade damit beschäftigt, den Leichnam eines Jugendlichen zu bergen, der in der Nacht zuvor überfahren worden war.“
„Ja, ich habe davon gehört. Und wie waren Sie davon betroffen?“
„Ich war Mitglied der SOKO. Betraut mit der Bearbeitung des tödlichen Unfalls, zusammen mit einem Kollegen vom Assistenzbereich Tatort. Zuerst habe ich die Sicherstellung der technischen Aufzeichnungseinrichtungen der unfallbeteiligten Lokomotive durchgeführt, wie vom Staatsanwalt angeordnet. Das heißt, der Streifen für die Langzeitaufzeichnungen und die Registrierscheibe der Schweizer E-Lok wurden sofort einkassiert und …“
„Stopp, Anton! Das soll hier doch kein amtliches Protokoll werden. Wenn ich gefragt habe, wie Sie davon betroffen waren, meinte ich: Welche Beziehung hatten Sie zu den Opfern? Kannten Sie sie persönlich?“
Hagen atmet tief aus. „Ich kannte die Polizistin, ja. Hatte früher ein paar Mal mit ihr zu tun, rein beruflich. Sie war sehr kooperativ. Nett. Eine tadellose Kollegin.“
Dr. Grein sieht ihn nachdenklich an. „Hat man Ihnen danach ein Angebot zur Krisenintervention gemacht?“
„Sicher. Allen, die mit der Aufräumungsarbeit und den Erhebungen vor Ort befasst waren, wurde ein solches Psychodingsbums angeboten. Ein paar jüngere Kollegen haben das auch in Anspruch genommen, glaube ich. Ich nicht. Aber ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen. Es war natürlich hart, die verstreuten Körperteile von drei Menschen einsammeln zu müssen. Aber das ist es immer! Egal, ob wir ein junges Mädchen vergewaltigt
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