Duenne Haut - Kriminalroman
mit Laub umgegangen war. Er verstand zuerst gar nicht, was das Thema Geschwindigkeit mit diesem Disput zu tun haben sollte. Laub mit seinem ununterbrochenen Gequake ist nicht gerade der Prototyp des Langsamen. Und er selbst hatte sich doch die längste Zeit zurückgehalten, hatte sich wirklich bemüht, auf die Sprüche des reaktionären Lehrers nicht anzuspringen wie ein Lichtsensor, der auf jede Meise reagiert. Bis er kapierte, dass Mickl von der Denkgeschwindigkeit sprach. Von unterschiedlichen Rhythmen und Reaktionsmustern.
Gleich im Anschluss an diese vermaledeite Gruppensitzung hat sie in der Einzeltherapie sogar noch ein Schäuferl nachgelegt, mit ungewohnt klaren Worten:
Wenn ich Ihre Geschichte höre, Ernst, sehe ich, wie Sie durch die Forderungen und Ansprüche Ihrer Eltern in eine permanente Übererregtheit gedrängt wurden. In eine Art von Aktionismus, der sich – vielleicht auch beruflich bedingt – bis heute ständig gesteigert hat. Wo Ihnen jede Entspannung fremd ist und Sie sie deshalb abwehren. Nur wenn Sie aktiv sind, am besten auf einer öffentlichen Plattform, glauben Sie, mit sich selbst deckungsgleich zu sein. Aber merken Sie eigentlich, Ernst, dass Sie mit dieser Haltung dem Leistungsdenken mehr verhaftet sind als mancher Kapitalist, den Sie auf der Kabarettbühne bekämpfen?
Diese Analyse hat ihm die Sprache verschlagen. Nicht einmal ein Schmäh fiel ihm ein, mit dem er standesgemäß hätte kontern können. Weil sie ins Schwarze getroffen hatte, deshalb. Geknickt verließ er ihr Zimmer. Auf dem Weg zum Speisesaal dann gleich der nächste, noch viel härtere Tiefschlag aus dem Munde Rosis:
„Hosdas scho ghört – da Wolfgang Laub woit se aufhänga! Im letzten Moment hams’n obagschnittn …“
Da hat er auf das Abendessen verzichtet, und auf das heutige Frühstück gleich noch dazu.
Vornüber gebeugt pickt er im Sitzen ein Stück Papier vom Spannteppich. Ein Jäger und Sammler, ja, das ist er, von Urzeiten her. Kein Fetzchen, das ihm entginge. Als wären sie klebrig, seine Fingerspitzen, als würden sie den Unrat der Welt absorbieren wie Bienenbeine den Blütenstaub. Eine Manie, zugegebenermaßen, aber durchaus nützlich in diesem Job. Denn seine Hirnwindungen reagieren ebenso wie die Fingerspitzen. Sie absorbieren Stimmungen und Gefühle, um sie einzulagern und reifen zu lassen zu Pointen.
Aber im Moment ist ihm nicht nach Witzen zumute. Eine geschlagene Viertelstunde hockt er nun schon auf der Porzellanschüssel, ohne dass ihn eine Verstopfung plagen würde. Und weil er sich auf dem Klo immer schon gerne mit Schach beschäftigt hat, fällt ihm jetzt auch etwas Schachspezifisches ein, das mit Dr. Mickls Analyse von ihm zu tun hat: Die Eigenart der Diagonale im Schach. Er hat immer geglaubt, sie verstanden zu haben – aber wieso handelt er dann nicht danach?
Die Diagonale funktioniert auf dem Schachbrett ja anders als in der klassischen Geometrie. Während die Diagonale im Quadrat immer länger ist als die Seiten, ist man im Schach auf der Schrägen gleich schnell unterwegs, geht es hier doch nicht um die Weglänge, sondern um die Anzahl der Felder, die zum Beispiel einem Freibauern noch fehlen auf seinem Weg zur Grundlinie, zur magischen Verwandlung. Sobald der König vor dem Zug des gefährlichen Freibauern das Quadrat betreten hat, kann der laufen, so schnell er will: Er wird dem König nicht entkommen. Dementsprechend könnte es der König, wenn er diese Logik einmal begriffen hat, gemütlich angehen, ohne jede Hektik. Und genau das schafft er, Prader, nicht. Selbst wenn er längst im Quadrat drinnen ist, rennt er, strampelt er, als ginge es um sein Leben. Als könnte ihm der Bauer doch noch entwischen und im letzten Moment eins auswischen …
Permanente Übererregtheit
, so hat sie es genannt,
Aktionismus
. Stimmt! Immerzu muss er selbst eine Rolle spielen, anstatt Wort oder Tat einmal anderen überlassen zu können, so wie gestern in der Gruppe.
Das Hektische, Strudelnde ist eben seine zweite Haut geworden. Und das seit Jahren.
Nur an einem Ort in Wien hat er es eine Weile lang geschafft, diese zweite Haut stundenweise abzustreifen und die erste, ursprüngliche wieder ein bisschen zu spüren: im Lainzer Tiergarten. Der Platz, der bei seinen allwöchentlichen Wanderungen fixer Zielpunkt war, egal ob er das riesige Parkareal vom Lainzer, St. Veiter oder vom Nikolaitor aus betrat, war die Lagerwiese droben beim Wiener Blick. Die Atmosphäre dort schaffte es innerhalb von
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