Duenne Haut - Kriminalroman
nennen, Kontinuität. Aber mich interessiert das restliche, das ungebändigte Achtel. Das möchte ich mir reservieren – für uns. Bist du dabei, Tone?
Ja, er wollte dabei sein. Droben auf dem Gipfel des Binn Dubh feierten sie das ungebändigte Achtel, liebten sie sich unter freiem Himmel.
„Wenn man das überhaupt einen Gipfel nennen kann“, murmelt er. „Mir zuliebe hat sie ja auf eine richtige Bergtour verzichtet. Die Twelve Pins sind so etwas wie bessere Hügel, müssen Sie wissen. Das Hochmoor war unser Hochzeitsbett, die Anoraks unser Laken. Vom fantastischen Panorama bekamen wir nicht viel mit. Mit siebzehn oder achtzehn haben wir das schon einmal gemacht, im Lustenauer Ried. Stellen Sie sich vor: So lange hat es gedauert, bis ich endlich wieder soweit war!“
„Also doch ein Gipfel“, sagt Dr. Grein.
„Ja. Der allerletzte.“
Er stockt. Sie wartet geduldig, bis er sich wieder gefangen hat.
„Wir sind beide eingeschlafen danach. Als wir aufwachten, stand die Sonne schon tief. Keine Chance, noch bei Tageslicht das Auto zu erreichen, nicht auf dem normalen Pfad. Ich schlug vor, die Abkürzung über den steilen, steinigen Nordhang zu nehmen. Sie war der Meinung, wir hätten doch eh alle Zeit der Welt.
Niemand hetzt uns, niemand wartet auf uns. Warum spazieren wir nicht gemütlich im Mondlicht zurück?
Ich fand das naiv und gefährlich.
Und was, wenn der Mond nicht scheint und wir das Auto nicht finden? Oder sich einer von uns den Fuß bricht oder sonst was? Sieben Achtel
, sagte sie nur.
Sieben Achtel, Tone!
Aber sie hat mir nicht länger widersprochen.“
Wieder verstummt er. Von nun an setzt Dr. Grein all ihre Geduld und ihr Fingerspitzengefühl ein, bis sie endlich die ganze Unfallgeschichte in Erfahrung gebracht hat.
„Das ist also jetzt ein gutes Jahr her, nicht wahr? Und wem haben Sie davon erzählt?“
„Natürlich niemandem“, fährt er auf, „wen geht das was an!“
„Keine Ahnung“, sagt sie, als hätte er eine ernst gemeinte Frage gestellt. Dann bittet sie ihn, im Zimmer auf und ab zu gehen.
„Wozu?“, fragt er verblüfft.
„Einfach auf und ab, Anton, das ist doch nicht so schwer. Auf den Wandspiegel zu und wieder retour. Und beobachten Sie bitte genau!“
„Was?“
„Was immer Ihnen auffällt …“
Er tut, was sie von ihm verlangt. Als er das dritte Mal zum Ausgangspunkt zurückkehrt, stoppt sie ihn und bittet ihn, wieder auf seinem Stuhl Platz zu nehmen.
„Nun?“
Er kommt sich reichlich blöd vor.
„Nun was?“
„Haben Sie etwas Auffälliges bemerkt?“
Diese Frage stellt normalerweise er. Aber das Landeskriminalamt ist weit, weit weg im Moment. Irgendwo außerhalb des Sonnensystems …
Er zögert lange mit der Antwort. „Nnn-ein. Aber was ich Sie schon länger fragen wollte: Haben Sie ein Problem mit Ihrem Rücken? Einen Hexenschuss?“
Sie bricht in schallendes Gelächter aus. „Weil meine Schulter und mein Hals so verspannt wirken, meinen Sie?“
„Ja.“
Was soll dieses Lachen! Verarschen kann er sich selber.
Sie steht auf, packt ihn am Arm und marschiert mit ihm zusammen vor den mannshohen Wandspiegel.
„Nun, Tone?“ Ihre Augen lächeln ihm freundlich entgegen. „Merken Sie noch immer nichts?“
„Nein“, sagt er resigniert. „Ich merke nichts.“
„Wir Menschen sind schon komische Tiere“, sagt sie. „Täglich sehen wir unser Bild in Spiegeln, auf Fotos und auf Film gebannt. Aber nicht einmal unsere Umrisse nehmen wir richtig wahr. Von Beginn an habe ich Sie gespiegelt: Ihren schief sitzenden Kopf, die verspannten Schultern … Und obwohl Sie doch sicher ein Mann der präzisen Beobachtung sind, haben Sie diese Spiegelung nicht im Mindesten wahrgenommen. Was sagt uns das?“
Sie dreht sich um neunzig Grad, schaut ihm direkt in die Augen. Obwohl sie einander ordentlich gekleidet gegenübersitzen, kommt er sich jetzt ziemlich nackt vor.
„Dass halt auch ein präziser Beobachter gewisse Dinge nicht mitkriegt.“
„Gut. Und weiter.“
„Dass man an anderen das Verdrehte und Verquere eher erkennt als an sich selbst.“
„Gut. Weiter.“
„Dass … dass mein Körper vielleicht eine gewisse … Materialermüdung aufweist. Gut?“
„Ja, sehr gut.“ Sie lädt ihn ein, sich wieder hinzusetzen. „Aber Materialermüdung betrifft nicht nur unseren Körper, Anton! Raubbau gibt es überall. Kein Wunder, dass ein Motor, der ständig auf höchsten Touren läuft, irgendwann einmal überhitzt und ausfällt. Auch Geist und Seele brauchen
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