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Duenne Haut - Kriminalroman

Duenne Haut - Kriminalroman

Titel: Duenne Haut - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kabelka
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zuwinkte, gab auch sonst keine Silbe von sich. Bis er dann, knapp vor der Sperrstunde, wie aus dem Nichts zu singen begann. Alle schwiegen, auch die Musiker setzten ihre Instrumente ab. Es war eine lange Ballade, und sie berührte jeden. Selbst Hagen, der beileibe nicht alle Worte verstand.
    Ein paar Verse hat er sich bis heute gemerkt:
I walk along the shore / the rain in my face / my mind is numbed with grief / of you there is no trace …
    Während des Liedes hatte Lisa ihren Kopf auf seine Schulter gelegt. Zuerst bemerkte er gar nicht die Tropfen auf seinem Hemd, genoss nur ihre warme Wange. Was genau heißt
no trace?
, fragte er. – Keine Spur, übersetzte sie, keine Spur von dir. – Und wieso weinst du? – Weil das Lied so unendlich schön ist.
    „Das war unser letzter Abend. Am nächsten Tag war sie fort, für immer. Und jetzt“ – er räuspert sich – „jetzt bist du dran. Quid pro quo.“
    Marie Therese atmet tief durch. „Scheiße“, sagt sie. „Läuft dir einfach davon, die Frau!“
    Er korrigiert sie nicht. Streckt stattdessen beide Beine aus, um sich besser auf ihre Geschichte konzentrieren zu können.
    *
    Sie erzählt einen Traum. Den, der immer wiederkehrt. Von dem sie
diesen Ärschen
von Ärzten natürlich nichts gesagt hat, nie etwas sagen wird. „Glaubst du, ich will mir wieder anhören, dass alle Gestalten, die im Traum vorkommen, letztlich nur meine eigenen Anteile sind!“
    Sie berichtet vom großen Mann mit der hohen Stirn, edel von Statur und silbergrau das Haar.
    „Wie viel schwerer macht es einem das gleich, sich einzugestehen, dass er krank ist, verrückt, wenn er aussieht wie ein Adonis …“
    Adonis stiehlt sich in ihr Schlafzimmer. Sie liegt in der Mitte des Doppelbetts, links und rechts von ihr die Kinder. Sein Gesicht –
seine Visage
– beugt sich über sie, haucht sie an, heiß und giftig. Es ist die Visage Klaus Kells, ihres Ex. Sie ist unfähig zur kleinsten Bewegung, als läge sie auf einem Operationstisch, betäubt nur die Gliedmaßen, nicht das Hirn, nicht die Sinnesorgane. Sanft löst er die um sie geschlungenen Arme der Kinder, zieht ihre Leiber hoch zu sich, wiegt sie vor seiner breiten Brust. Der liebevolle Vater, der gnadenlose Vollstrecker. Er lässt die Kleinen los, und sie schweben vor ihm, als hätte ein Zauberer ihre Schwerkraft aufgelöst, und er holt die Streichholzschachtel aus seiner Brusttasche, öffnet sie höhnisch. Mit zwei harmlosen Hölzchen pölzt er ihre Lider auf, dass die Augäpfel hervortreten wie rot geäderte Glasmurmeln. Damit dir ein Licht aufgeht!, flüstert er, damit du siehst, was du mir angetan hast! Dann umschlingt er den Hals von Babsi und würgt sie, würgt sie so lange, bis sie steif in der Luft schwebt, danach René. Ihre toten Kinder schweben zwischen ihm und ihr, nicht einmal schreien kann sie, nicht einmal wegschauen. Aber als er sich verabschiedet, mit einer tiefen Verbeugung wie ein Musketier, der den federbesetzten Hut schwenkt, erkennt sie, dass es das Gesicht ihres Vaters ist, das sie angrinst, und gleich darauf wieder Kells Visage. Ehemann und Vater in einem ständigen Wechsel. Und sie, regungslos, auf dem Bett; die toten Kinder schwebend über ihr.
    „Kill Kell! Kill Kell!“ Es hört sich an wie der Schlachtruf einer Amazone. Hagen versucht sie zu beruhigen, indem er sie an der Schulter packt und leicht schüttelt, als müsse er sie aufwecken. Sie schnauft.
    „Weißt du, ich bin jetzt ein Jahr von diesem Menschen geschieden, und davor haben wir fast ebenso lange getrennt gelebt. Aber jede Nacht, jede einzelne Nacht schleicht er sich ein bei mir! Er kommt von drüben, von irgendwo da drüben …“ – ihre Hand macht eine fahrige Geste – „ … und nachdem er sich an den Kleinen vergriffen hat, verschwindet er wieder dorthin, wo er nicht zu greifen ist.“
    „Aber im wirklichen Leben? Wo leben deine Kinder tatsächlich?“
    Sie sieht ihn an mit ihren Waschbäraugen, in denen viel geschrieben steht vom großen Verlassensein, von den zahlreichen, nie eingelösten Ansprüchen ans Leben, an die Liebe.
    „Das Familiengericht hat sie Kell zugesprochen.“ Sie senkt den Kopf. Spricht, als gälten die Worte ihrem Schoß. „Er hat es glänzend verstanden, mich als die Verrückte hinzustellen, die Gemeingefährliche. Gegen alles, was von meiner Seite kam, hat er quergeschossen, bei jeder Behörde hat er mich schlechtgemacht. Reden kann er ja, und sein Auftritt hat diese Sozialfritzen immer furchtbar beeindruckt. Erst

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