Duenne Haut - Kriminalroman
von ihm selbst ausgegebene Standard ist.
Marie Therese schildert diverse Beispiele für ihr Ausrasten und plappert munter vor sich hin. Er weiß, dass es längst an der Zeit wäre, ihren Redefluss zu bremsen und strukturierend einzugreifen; aber während sie vor ihm ausbreitet, wie es zu ihrem Konflikt im Intercity kam, läuft bei Dr. Sachs ein eigener Film ab, ausgelöst von der Duftspur, die Marie Therese anhaftet.
Moschus, wenn er sich nicht täuscht.
„Ich war unterwegs zur Buchmesse nach Leipzig, kurz davor hatte ich einen Abortus gehabt. Der Typ saß am Fensterplatz, mit eingeschaltetem Notebook, und erzählte von seinem Leben. Von seinem künftigen Leben, wohlgemerkt! Ihm gegenüber der ideale Zuhörer: Einer, der ständig zustimmend nickt. Zwei Supermachos hatten sich da gefunden …“
Was ist schwerer zu fassen oder zu beschreiben als ein Geruch? Andererseits: Keine andere Sinneswahrnehmung lässt sich so lange abspeichern und noch Jahre später einer bestimmten Situation zuordnen. Und die Situation, an die der Chefarzt eben mit einem flauen Gefühl im Bauch zurückdenkt, ist erst wenige Tage her. Wenige Nächte, genau genommen.
„Der mit dem Notebook schaffte es, jeden im Abteil mit seinem ganz privaten Fünfjahresplan zu beglücken und gleichzeitig auch noch auf dem Computer zu arbeiten! Vermutlich kannte er seine Zukunft bereits auswendig. Er wusste, wann die nächste Beförderung anstand und als logische Folge der Hausbau. Er wusste, wann er seine Freundin heiraten würde, in zwei Jahren nämlich, denn einer Tante ginge es sehr schlecht, deren Erbanteil wäre dann sicher fällig. In drei Jahren das erste Kind, in vier Jahren das zweite. Ein Jahr Abstand sei ideal, meinte er, da könnten die lieben Kleinen miteinander am meisten anfangen und würden so die Eltern entlasten. Den Sprung zum Abteilungsleiter peile er in fünf Jahren an, der derzeitige Leiter sei dann reif für die Pension …“
Sachs könnte schwören, dass es dieser Geruch war! Auch wenn die Duftnote eines Parfums eigentlich nie ungetrübt, sondern immer mit dem Eigengeruch der jeweiligen Frau vermischt auftritt.
„Und was, wenn du in einem Jahr Blutkrebs bekommst?, mischte ich mich ein. Oder wenn deine Freundin Nein sagt vor dem Standesamt, was ich ganz sicher täte? Oder wenn dich morgen ein Betrunkener überfährt und du liegst querschnittgelähmt in deinem Erste-Klasse-Bett und heulst den Mond an? Hm, was dann?“
Was redet sie da für ein Zeugs! Der junge Laptopbesitzer könnte er selbst gewesen sein. Die Zukunft gilt es nun einmal zu zwingen, davon ist Sachs felsenfest überzeugt. Im Verlauf seiner Karriere wurde ihm oft genug bestätigt, dass nur der sich durchsetzen wird, der das Leben als das akzeptiert, was es ist: ein Kampf. Das ganze Haus hier ist voll mit Versagern, deren Mangel an Dickhäutigkeit sie für alle Zeit unten halten wird. Und damit sind beileibe nicht nur die Patienten gemeint, sondern auch Weicheier wie Sigrid Bayer oder Guido Westhäußer.
„Wollen Sie wissen, was er darauf antwortete?“ Sie ist stehengeblieben und beugt sich zu ihm hinunter.
„Natürlich“, versichert er ihr mit einem professionellen Lächeln. Warte nur, denkt er, ich kitzle es noch aus dir heraus. Noch in dieser Stunde.
Sie richtet sich wieder auf. „Mit einer solchen Einstellung gibt man sich besser gleich den Gnadenschuss! Sagte er und grinste.“
„Okay. Und Sie? Was taten Sie?“
„Ich wischte ihm das Notebook von den Knien.“
Sie berichtet ohne sichtliche Erregung, dass der Mann daraufhin wie verrückt auf sie einschlug. Das blaue Auge, das sie dabei abbekam, habe sich aber letztendlich als Glücksfall erwiesen. Auf Anraten seines Rechtsanwalts zog der Mann die Anzeige wegen schwerer Sachbeschädigung nämlich von sich aus zurück.
„Fühlten Sie sich erleichtert, als Sie das Notebook demoliert hatten?“
„Natürlich!“
„Natürlich. Weil Sie damit Spannung abbauen konnten?“
„Ja. Damals reichte das noch.“
„Und heute? Was würden Sie heute tun?“
Er merkt, wie sie sich auf die Lippen beißt und etwas hinunterschluckt. Dann serviert sie ihm die Brave-Mädchen-Version: „Heute würde ich mich nicht mehr einmischen. Einfach weghören. Mir denken: Was geht dich das an. So würde ich heute reagieren, ja.“
Sie lächelt. Er lächelt.
Smile, and the world smiles with you …
„Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück und schauen wir, was hinter dieser Wut steckt, Marie Therese. Es war ja nicht
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