Duerers Haende
wie kein Zweiter, aber von einer solchen Problematik wie dem weiten Feld der Ehre hatte er schlichtweg keine Ahnung.
7
Als sie am nächsten Morgen nach einer kurzen Nacht erwachte, war Paul bereits verschwunden. Noch war die rechte Seite in ihrem Bett lauwarm. Er musste erst vor wenigen Minuten die Wohnung verlassen haben.
Sie bedauerte ein wenig, ihn verpasst zu haben, und trabte in die Küche. Dort erwartete sie eine Überraschung. Ein karges, aber mit allem, was ihr Haushalt an diesem Morgen zu bieten hatte, angerichtetes Frühstück. Eine kleine Kanne heißen Kaffees in der auf »on« geschalteten Kaffeemaschine, zwei Knäckebrote auf einem Holzbrett, daneben ein Messer, die Butterdose, das fast geleerte Glas Honig und das immerhin noch halb volle Milchkännchen. Sie war über diesen stummen Morgengruß gerührt.
An der Kaffeetasse lehnte ein Zettel. »P. an P.: Guten Appetit! Hier die Antwort auf deine Frage gestern Abend: Arbeit = wie man den Tag rumbringt.« Sie musste lächeln. Sie hatte mit einem Pragmatiker das Bett geteilt. Mit einem nüchternen, aufmerksamen, liebevollen Pragmatiker, nicht mit einem Wichtigtuer.
Kurz nach halb neun machte sie sich endlich auf den Weg, um ihren Tag rumzubringen. An der Fleischbrücke blieb sie stehen. Sie nahm ihre Fragenkette vom gestrigen Heimweg wieder auf. Warum hatte Frey, als sie ihn von dem Parkplatz aus anrief, nicht wissen wollen, ob in dem Lkw etwas fehlte? Warum waren Geldbeutel und Ladung des Ermordeten unangetastet – und die Kette, die über seinen Situs inversus im Notfall Auskunft geben sollte, hatte man ihm abgenommen, mit Gewalt abgerissen? Warum wollte der Anrufer, der doch einen respektablen Fund zu melden hatte, anonym bleiben? Allesamt Fragen, die sie bislang vernachlässigt hatte. Das sollte heute anders werden, und zwar grundlegend anders. Schnellen Schritts eilte sie zu ihrem Arbeitsplatz.
Dort wurde sie bereits ungeduldig erwartet. »Frau Steiner, was sagen Sie dazu? Heinrich meint, ein Crossfire ist als Coupé grundsätzlich zu klein, um darin einen toten Erwachsenen zu transportieren. Ich aber sage, wenn man die rückwärtige Sitzbank umlegt, Voraussetzung ist, dass sie auch umklappbar ist, dann geht das schon. Außerdem kann der Mörder den toten Shengali auch auf den Beifahrersitz gesetzt und mit dem Gurt befestigt haben.« Eva Brunner sah sie hoffnungsvoll an.
»Ich sage erst mal Guten Morgen allerseits. Und dann sage ich, wir halten jetzt eine kleine Dienstbesprechung ab. Sprich: Wir unterhalten uns mal in aller Ruhe. Um in diesen Fall endlich Struktur reinzubringen.«
Sie hängte ihre Jacke an den Garderobenhaken. »Aber heute ohne kunsthistorische Vorträge, wenn ich bitten darf, oder sonstige theoretische Ausflüge in angrenzende Wissenschaftsgebiete, so unterhaltsam sie mitunter auch sein mögen. Also, hat jemand etwas Neues beizutragen?«
Eva Brunner und Heinrich schüttelten verneinend den Kopf.
»Ich muss gestehen, ich auch nicht. Aber ich habe eine Idee, welchen Weg wir einschlagen sollten. So, was haben wir alles? Einen anonymen Anrufer, eine abgerissene Metallplakette, eine komplette Ladung und einen ebenso unangetasteten Geldbeutel. Was sagt uns das?«
Sie sah aus dem Fenster. Bevor Eva Brunner zu einem ihrer in diesem Raum mittlerweile gefürchteten längeren Redebeiträge ansetzen konnte, beantwortete sie sich ihre Frage selbst.
»Das sagt uns zweierlei. Erstens, der Mörder kennt sein Opfer. Zweitens, Raubmord ist auszuschließen, vorerst zumindest. Drittens, es besteht die Möglichkeit, dass die Spedition – oder wie Frau B. Entner sagen würde: das Logistikunternehmen – mit in diese Geschichte verwickelt ist. So, was haben wir noch? Einen Neffen, der ausgesagt hat, seinem Onkel sollte gekündigt werden. Und was ist das Besondere an diesem Arbeitsplatz?«
Wieder gab sie ihrer Mitarbeiterin keine Chance. Ohne zu zögern fuhr sie fort: »Das Besondere daran ist, er kam nur durch bestimmte Vorleistungen zustande. Durch Zahlungen des Arbeitsamts. Durch Geld. Frey-Trans und Kramers Vermittlungsagentur haben mit Shengalis Arbeit Geld verdient. Sie haben Arbeit verkauft beziehungsweise Arbeit billig eingekauft. Arbeit, die nun auf einmal keiner mehr zu brauchen scheint. Und genau um diesen Aspekt werden wir uns heute kümmern.«
Jetzt war die erste längere Pause in ihrem Vortrag fällig. Sie wollte Heinrich und Frau Brunner Zeit geben, nun ihrerseits die Gedankenkette weiterzuknüpfen, Fragen zu stellen oder gar
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