Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
steuert unser Temperament.«
»Du findest schon raus, wie er geheilt werden kann, Victor«, sagte er. »Du bist fast so klug wie Konrad.«
» Fast so klug?«, fuhr ich ihn an. »Und woher willst du das wissen, Kleiner?«
Erstaunt und gekränkt riss er die Augen auf und ich bereute meinen Ausbruch sofort. Wie konnte ich ihm das übel nehmen, wo es doch so offensichtlich zu sehen war? Konrad war immer schon der bessere Schüler gewesen, und mein Vater hatte keinerlei Anstrengungen unternommen, das zu bemänteln. Trotzdem kränkten mich Ernests Worte. Selbst einem Neunjährigen war klar, dass Konrad der strahlendere Stern an unserem Familienhimmel war.
Wäre ich ein Jahr jünger als Konrad – oder zumindest kein eineiiger Zwilling –, dann wäre das einfacher zu ertragen gewesen. Doch er und ich waren dafür vorgesehen, in jeder Hinsicht gleich zu sein. Welche Ausrede hatte ich dann dafür, dass ich trotzdem der Schwächere war?
Elizabeth erschien in der Tür. »Ernest, Justine sucht nach dir im Garten.«
Ich lächelte meinen kleinen Bruder entschuldigend an und klopfte ihm auf die Schulter, aber er warf mir nur einen letzten misstrauischen Blick zu.
»Immer noch hier?«, fragte Elizabeth beim Eintreten.
»Du hast deine Gebete«, sagte ich. »Ich kann nicht beten, aber ich muss etwas tun, sonst werde ich verrückt.«
Ruhelos blickte ich wieder in mein Buch, einen mächtigen Wälzer, der hauptsächlich auf Latein geschrieben war. Meine Lateinkenntnisse waren schlecht und jeder Satz ein Kampf, doch ich weigerte mich, einfach aufzugeben. Ich war kein besonders glänzender Schüler, aber dem würde ich jetzt mit harter Arbeit abhelfen.
Behutsam klappte Elizabeth das Buch zu. »Du solltest nicht erwarten, dass du ihn allein heilen kannst.«
»Warum nicht?«, wollte ich wissen. »Irgendjemand muss das doch tun.«
Mein Blick streifte über das Regal, das den geheimen Durchlass zur Dunklen Bibliothek verdeckte.
»Du bist jetzt schon den ganzen Tag hier. Du kannst Henry nicht so einfach im Stich lassen.«
Ich seufzte. »Es tut mir leid, wenn Henry sich im Stich gelassen fühlt, aber es gibt hier so viele Bücher, mit deren Hilfe …«
»Geh reiten«, schlug sie vor. »Dir wird hier nur noch finsterer zumute. Reite mit Henry für ein oder zwei Stunden hinauf zu den Wiesen.«
Verzweifelt blickte ich auf meinen Tisch. »Nur für eine kurze Pause.«
Also zogen Henry und ich unsere Reitkleidung an und nahmen für ein paar Stunden unsere Pferde. Und ich genoss den Sonnenschein und den Wind in meinem Gesicht, auch wenn ich mich schuldig fühlte, dass ich Konrad in seinem Krankenbett zurückgelassen hatte.
Als wir uns wieder dem Schloss näherten, keimte in mir Hoffnung auf. Sobald mir Mutter und Vater begegneten, würden sie lächeln und sagen, dass Konrads Fieber endgültig gesunken war, er über dem Berg sei und alles gut werde.
Doch so war es nicht. Ihm ging es genauso wie vorher.
Am Tag darauf begleitete ein zweiter Arzt Dr. Lesage. Dr. Bartonne war ein gut aussehender, elegant gekleideter Herr, der Selbstvertrauen verströmte wie ein zu starkes Kölnischwasser. Schon auf den ersten Blick mochte ich ihn nicht.
Er stolzierte ins Zimmer, warf einen Blick auf meinen Bruder und sagte, er habe eine Blutstörung. Deshalb müsse er zur Ader gelassen werden.
Dieser Arzt verteilte nun schleimige Blutegel über den blassen Körper meines Bruders und ließ sie sein Blut saugen, bis Konrad ohnmächtig wurde. Der Kerl war höchst zufrieden und verkündete, er habe meinen Bruder von dem Gift gereinigt, welches die Ursache für das Fieber sei, und wenn Konrad am Morgen aufwachte, dann würde er sich zwar noch etwas schwach, aber besser fühlen.
Es stimmte. In der Nacht war Konrads Stirn kühler als in der Nacht zuvor – aber wer würde sich nicht kühler anfühlen, wenn ihm das meiste Blut abgesaugt worden war? Trotzdem hatten wir alle große Hoffnung, dass dies Prozedur Konrads Besserung beschleunigen würde.
Doch am Morgen kehrte das Fieber zurück. Dr. Bartonne wurde wieder gerufen, danach suchte ich Mutter, um von ihr zu erfahren, was er gesagt hatte.
Im oberen Flur hörte ich zufällig, wie sie im westlichen Wohnzimmer mit Maria sprach. Vor der Tür blieb ich stehen, denn ich erkannte an Marias gedämpfter Stimme, dass sie über etwas schrecklich Geheimes im Gespräch waren.
»… könnte vielleicht helfen«, sagte Maria gerade. »Viele behaupten, dass große Kraft darin steckt.«
»Du liebst ihn und wir alle
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