Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Titel: Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
Vom Netzwerk:
Hüften. Aber es ist einfach wunderbar, sich nach den vielen Schichten so leicht zu fühlen.« Sie kicherte und drehte anmutig eine Pirouette. »Kein Wunder, dass ihr Männer die Geschäfte dieser Welt regelt. In leichterer Kleidung ist das viel weniger anstrengend.« Sie stupste mich in die Brust. »Jetzt kenne ich euer Geheimnis.«
    »Na ja«, sagte ich ein bisschen hilflos. »Hier.« Ich gab ihr und Henry jeweils eine pelzbesetzte Jacke und zog dann meine eigene an.
    »Die Sterne sind bald weg«, bemerkte Henry und spähte in den bewölkten Himmel über dem See.
    Wir trugen jeder einen Rucksack und nahmen eine Rolle Knotenseil über die Schulter. Dann zündeten wir zwei weitere Laternen an.
    Ich blickte noch einmal auf Polidoris Karte. »Hier lang«, sagte ich, bevor wir uns auf einem schmalen Pfad in den Sturmwald wagten.
    Zwischen den großen Bäumen wurde das wenige Sternenlicht, das noch verblieben war, nahezu ganz verdeckt. Obwohl nun jeder von uns eine Laterne trug, konnten wir doch nicht mehr als wenige Schritte vor uns sehen. Wir stolperten den Berg hinauf. Unter meinem Gürtel steckte ein Dolch, den ich mir aus unserer Waffenkammer genommen hatte. Mit ihm fühlte ich mich etwas sicherer.
    Das Geräusch des Windes wurde kräftiger und im Unterholz hörte ich Geräusche von Tieren. Vor uns blitzte im Schein der Laternen ein Paar Augen auf – dann waren sie verschwunden. Es waren keine kleinen Augen.
    »Victor«, sagte Henry mit gepresster Stimme, »da ist ein Tier.«
    »Ich hab’s auch gesehen«, flüsterte Elizabeth und fügte dann hoffnungsvoll hinzu: »Vielleicht ein Reh.«
    »Das ist längst weg«, sagte ich. »Nichts wagt sich so nahe an unser Licht heran.«
    Ich sagte nicht mehr, doch ich spürte, dass wir drei nicht alleine waren. Irgendetwas hielt Schritt mit uns, schlich auf weichen Füßen, mit Augen, welche die Nacht problemlos durchdringen konnten.
    Die Bäume wurden höher und ächzten im Wind. Der Pfad wurde noch schmaler und schien dann völlig zu verschwinden. Ich blieb stehen und betrachtete erneut die Karte.
    »Inzwischen hätten wir eigentlich die Lichtung erreichen müssen«, murmelte ich.
    »Wir haben uns verirrt«, stöhnte Henry.
    »Diese Laternen sind nutzlos«, sagte ich. »In ihrem Schein fühle ich mich wie eingesperrt.«
    Auch verwundbar fühlte ich mich. Für alle war ich sichtbar, nur ich konnte nichts sehen. Ich beneidete die Tiere wegen ihrer Nachtsicht. Ich zog die kleine Flasche mit der Mixtur aus der Tasche.
    »Ist das Polidoris Trank?«, fragte Henry angespannt.
    »Die Sicht des Wolfs«, sagte ich und stellte die Laterne ab. Ich zog den Stopfen heraus, legte den Kopf in den Nacken und tippte gegen das Fläschchen. Ein dicker Tropfen quoll heraus und traf meine Backe. Ich versuchte es wieder und diesmal traf die Flüssigkeit direkt ins Auge. Ich unterdrückte den Drang, ihn wegzublinzeln. Jetzt war das andere Auge dran und der nächste Tropfen traf sofort sein Ziel.
    »Wirkt es?«, fragte Elizabeth.
    »Es brennt«, sagte ich und plötzlich wurde das Brennen zu einem rasenden Schmerz. Instinktiv kniff ich die Augen zu und riss die Fäuste hoch, um mir die Augen zu reiben. Was, wenn ich die Mischung nicht richtig gemacht hatte? Wenn ich nun blind wurde? Angst überkam mich.
    »Henry, die Wasserflasche!«, schrie ich.
    »Hier, hier!«, hörte ich ihn rufen.
    »Ich kann nichts sehen!«, brüllte ich.
    »Gib mir die Flasche!«, hörte ich Elizabeth zu ihm sagen und spürte ihren festen Griff um meinen Arm. »Steh still, Victor! Leg den Kopf zurück. Ich wasch dir die Augen aus. Mach sie weit auf!«
    Ich machte sie weit auf – und sofort hörte der Schmerz auf.
    »Warte!«, sagte ich und riss mich schnell von ihr los. Dann zwinkerte ich und blickte mich um.
    Der Wald erschien in gespenstischem Licht, die Stämme waren wie silbern bemalt und der Boden unter meinen Füßen leuchtete. Zwischen den Bäumen im Unterholz erblickte ich kleine Tiere, Spitzmäuse und große Käfer auf ihrer nächtlichen Jagd. Schwärme von frisch geschlüpften Stechmücken schwirrten wie Wolken über das Gras. Am Fuß eines Baums streckte eine Maus zögernd den Kopf aus ihrem Bau und weiter oben wendete eine raublüsterne Eule lauschend den Kopf.
    »Victor«, fragte Elizabeth, »Victor, was ist mit dir?«
    Ich merkte, dass ich mehrere Sekunden lang kein Wort gesprochen und nur um mich geblickt hatte, die Nacht mit meinen Augen verschlang.
    »Sicht des Wolfs«, murmelte ich. »Es funktioniert. Es

Weitere Kostenlose Bücher