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Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Titel: Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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konnten. Sie hatten Laternen und Streichhölzer, Flaschen mit Wasser und warme Jacken zusammengestellt – denn es versprach heute Nacht kalt zu werden – und alles neben dem Weg zum Sturmwald versteckt.
    »Aber eine Sache hast du vergessen«, bemerkte sie.
    »Und was?«
    »Wenn ich mir bei völliger Dunkelheit einen Weg durch den Wald bahnen und auf einen Baum klettern soll, brauche ich dafür geeignete Kleidung. Und zwar keine Frauenkleidung. Ich brauche Hosen.«
    »Hosen?«, fragte ich erstaunt.
    »Du klingst überrascht.«
    »Ich bin davon ausgegangen, dass nur Henry und ich auf den Baum klettern.«
    »Oh.« Sie nickte demütig. »Ja, ich denke, das wäre wohl besser. Ich kann ja unten warten und im Schein der Laterne sticken …«
    »Elizabeth …«, sagte ich, als ich die aufflackernde Wut in ihrer Stimme hörte.
    »… oder einfach von der neuesten Pariser Mode träumen.«
    »Polidori hat gesagt, dass der Baum extrem hoch sei.«
    »Ungefähr so hoch wie der, aus dem ich dich vor ein paar Jahren gerettet habe?«
    »Ich weiß nicht so recht, wovon du eigentlich redest«, log ich und konnte nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken.
    »Natürlich weißt du das! Die große Ulme auf der östlichen Weide? Ich sehe dir doch an, dass du dich erinnerst!«
    Ich erinnerte mich genau. Elizabeth war genauso wild darauf wie ich, auf Bäume zu klettern, und wir waren ziemlich hoch gestiegen. Doch als ich dann nach unten blickte, war ich plötzlich wie gelähmt gewesen vor Angst. Elizabeth hatte mir Mut zugesprochen und mich so lange herumkommandiert, bis wir wieder sicher auf dem Boden standen.
    »Ach, das!«, sagte ich mit einer abfälligen Handbewegung. »Da war ich ja erst elf.«
    »Und ich auch. Du hast mich damals gebraucht und du brauchst mich auch jetzt. Henry kriegst du sowieso nicht da rauf.«
    »Warum nicht?«
    »Henry? Komm schon, Victor. Henry ist kein Abenteurer.«
    »Er ist sehr praktisch veranlagt«, sagte ich.
    Elizabeth schnaubte. »Eine von deinen Hosen wäre prima. Eine Reithose und irgendein Hemd.«
    »Ja, natürlich«, sagte ich. »Ich bring dir die Sachen in dein Zimmer.«
    »Danke.« Sie sah sich in der Zelle um. »Es wundert mich, dass du dich hier drin konzentrieren kannst …«
    »Ich war völlig in meine Arbeit vertieft.«
    »Dr. Murnau scheint sehr gelehrt zu sein. Ich frag mich manchmal …«
    »Ob wir nicht etwas völlig Idiotisches vorhaben?«, fragte ich.
    Sie nickte. »Sein Wissen wirkt so modern und unseres ist uralt und …«
    »Du machst dir Sorgen, ob es sündig ist?«, fragte ich.
    Sie holte tief Luft. »Nein«, sagte sie dann entschieden. »Gott ist der Schöpfer, und alles auf der Erde existiert, weil Er es so will. Ich kann mir nicht denken, dass Er etwas dagegen hat, wenn wir das nutzen, was Er geschaffen hat. Höchstens, wie wir es nutzen. Zum Guten oder Schlechten. Was wir suchen, ist zum Guten, also mache ich mir deshalb keine Sorgen.«
    Ich überlegte, ob sie ihren Worten selbst glaubte oder das nur unbedingt wollte.
    »Ich habe die Kraft gespürt, die von dem Buch ausgeht«, sagte ich. »Das war ganz eindeutig.«
    »Komm, lass uns hier rausgehen«, schlug sie vor, »und uns noch ein bisschen ausruhen.«
    Schwaches Sternenlicht war unsere einzige Orientierungshilfe, als wir zu Fuß das Schloss verließen. Es war kurz vor Mitternacht. Wolken zogen von einem eisigen Nordwind getrieben über den Himmel. Wir umgingen das Dorf Bellerive und stiegen über die alpinen Weiden zum Sturmwald hinauf, der sich als breiter schwarzer Streifen vom Horizont abhob.
    Wir machten eine kurze Pause, blickten zurück und sahen den See und die Stadt unter uns schimmern. Weit entfernt schlug eine Glocke die erste Stunde des Morgens. Dann eilten wir weiter, erreichten den Waldrand und fanden die Stelle, wo Elizabeth und Henry unsere Ausrüstung versteckt hatten.
    »Es kommt Sturm auf«, sagte Henry fröstelnd. Über uns schwankten die Äste im Wind.
    Ich zündete eine Laterne an. Es war schon merkwürdig, Elizabeth in meinen Kleidern zu sehen, denn ich kannte sie nur in fließenden Gewändern. Meine Reithose, die sich eng um ihre Taille schmiegte, ließ mich zum ersten Mal ihre Hüften wahrnehmen. Und ich sah auch, wie sich das Hemd um ihre Brust spannte. Meine Kleidung ließ sie keineswegs wie einen Jungen aussehen, sondern betonte gerade ihre Weiblichkeit. Ihre langen rotbraunen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten.
    »Die Reithose macht mir keinen Spaß«, sagte sie zu mir. »Sie ist eng an den

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